Nerve (2016) | Filmkritik

Nerve

Bist du ein Watcher oder ein Player? Mit dieser Frage wird man in einem etwas anderen Onlinespiel konfrontiert. Und deine Antwort kann in der Tat tödliche Folgen haben.

In Zeiten der globalen Vernetzung, der Clouds, der Chatrooms und der Social Media, wirkt Nerve thematisch gar nicht mehr so weit hergeholt. Wenn man aus Hunger nach Anerkennung oder finanzieller Not den Weg wählt, Mutproben im Internet zu bestehen, kann man ziemlich schnell jegliche Kontrolle verlieren. Denn aus Nerve steigt man nicht so einfach wieder aus! Das Regisseurduo Henry Joost und Ariel Schulman schickt Mauerblümchen Vee (Emma Roberts) und Mädchenschwarm Ian (Dave Franco) auf einen Adrenalintrip durch das nächtliche New York.

Dabei fängt es erst einmal recht harmlos für Vee an. Die schüchterne Highschoolschülerin steht nie im Mittelpunkt. Vom Rande des Geschehens bewundert sie den Kapitän des Footballteams und versteckt ihr Gesicht hinter einer Kamera. Ihre beste Freundin Syd (Emily Meade) ist da schon anders gestrickt. Die dralle Sexbombe nutzt jede sich bietende Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das muss sie auch, denn im Onlinespiel Nerve muss sie die Gunst der Zuschauer gewinnen. Je mehr Watcher man hat, desto näher rückt das hohe Preisgeld.

So zeigt Syd bei einer Cheerleader-Tanznummer den nackten Hintern und riskiert einen Schulverweis. Als Vee beim Mann ihrer Träume abblitzt, reicht es dem stillen grauen Mäuschen. Schnell hat sie sich ebenfalls bei Nerve angemeldet und möchte es so dem Rest der Welt zeigen. Schnell kommt die erste Challenge auf sie zu: sie muss einen Fremden für 5 Sekunden küssen. Klar, dass im Cafe irgendwo ein schnuckeliger Typ namens Ian sitzt, der auch noch ins Beuteschema der schüchternen Blonden passt. Einen ungeschickten Kuss später schicken die Watcher mit ihren Herausforderungen das neue Traumpaar durch New Yorks nächtliche Straßenschluchten.

Mal sollen sie eine Modenschau in einer Edelboutique abhalten, dann braust Ian mit einem Motorrad blind in den Gegenverkehr. Aus anfänglich kleinen Mutproben werden schnell verantwortungslose Aufgaben. Besonders Syd sieht den wachsenden Ruhm ihrer Freundin nicht gern und es entwickelt sich eine gemeine Rivalität, angeschürt durch die Sensationsgier der Zuschauer. Diese kennen nämlich jedes Geheimnis der Spieler und nutzen Facebookprofile zur Analyse, um die Spiele noch persönlicher zu gestalten.

So steigert sich Nerve zusehends zu einem Adrenalintrip, in dem der Spieler sämtliche Hemmungen verliert, nur um die Anerkennung eines unbekannten Publikums zu erringen, die selbst vor einem Mord nicht halt machen. Und auch Vees Begleiter scheint nicht der zu sein, für den er sich ausgibt.

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Neben Hochglanzbildern und einem Musikvideo gleichen Schnitt gesellt sich eine schöne Playlist aus coolen, zeitgemäßen Songs. So wird der Ausflug zu einem kurzweiligen und ansehnlichen Ereignis. Die Spannungskurve zieht konsequent an und treibt die Handlung gut voran. Die beiden Hauptdarsteller machen einen soliden Job und wirken authentisch und liebenswert. Hier punktet Dave Franco (Die Unfassbaren) allerdings klar durch ein etwas abwechslungsreicheres Minenspiel, während Gesicht und Mimik seiner Filmpartnerin schnell in Vergessenheit geraten können. Aber so ist das eben mit den Mauerblümchen aus der Highschool.

Nerve ist eine Mischung aus Fight Club (1999) und Running Man (1987), nur eben für gelangweilte Mittelstandteenager. Statt sich mit Sträflingen zu duellieren oder sich ins Krankenhaus zu prügeln, reicht das Spektrum der Aufgaben von Gesangsnummern in einem Lokal bis zum Erklettern eines Baukrans. Dabei vergisst der Film aber manchmal das System der Vernetzung und die Geltungssucht der Jugendlichen anzuprangern. Zwar versucht man am Ende noch den Bogen zur Moralkeule zu schlagen, doch wirkt es bereits viel zu plakativ und halbherzig.

Gerade Vees Mutter, gespielt von Juliette Lewis (Natural Born Killers), wirkt viel zu passiv. Als sie mitbekommt, welchen Ärger ihre Tochter hat, sieht sie es angesichts der anfänglichen Sorge doch etwas zu gelassen. „Hey, meine Tochter soll erschossen werden! Aber ihr Kids habt schon alles unter Kontrolle. Dann ist ja alles gut!“; da hätte ich etwas mehr Hysterie erwartet. So verpufft die Gesellschaftskritik regelrecht im Showdown, statt uns vor Augen zu führen, in was für einer kranken Welt wir eigentlich leben.

Nerve ist kein schlechter Film. Er hätte nur das Potenzial gehabt, ein echtes Statement zu setzen und vielleicht sogar zum Kult zu werden. Denn wer kennt sie nicht, die Mutproben auf Youtube, wo jemand Hundefutter aus der Dose löffelt oder einhändig an einem Fabrikschonstein baumelt. Angesichts solch echter Videos, ist der Weg zu einem Spiel wie Nerve längst nicht mehr weit.

Am Ende bleibt daher nur ein kurzweiliger Popcornfilm mit gutem Soundtrack und netten Ideen, den man allerdings bald wieder vergessen hat. Schade.

Regie: Henry Joost, Ariel Schulman
Drehbuch: Jessica Sharzer
Musik: Rob Simonsen
Darsteller: Emma Roberts, Dave Franco, Juliette Lewis, Machine Gun Kelly

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Bildrechte: StudioCanal

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