Der Indianer im Küchenschrank

Der Indianer im Küchenschrank (1995) | Filmkritik

Magische Kindheitsfantasie mit problematischer Symbolik

von Mathias Grunwald

Mit Der Indianer im Küchenschrank brachte Regisseurin Frank Oz (Der kleine Horrorladen) 1995 eine Mischung aus Familienabenteuer und moralischer Fantasiegeschichte in die Kinos. Basierend auf dem Kinderbuch Der Indianer aus der Hosentasche von Lynne Reid Banks (1980) erzählt der Film von einem Jungen, dessen Spielzeugfigur eines Irokesen plötzlich lebendig wird.

Was auf den ersten Blick wie eine harmlose Geschichte über Freundschaft und Verantwortung wirkt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als komplexes Werk über Machtverhältnisse, kulturelle Missverständnisse und kindliche Naivität – mit einer Darstellung, die heute kritisch hinterfragt werden muss.

Wenn Fantasie auf Geschichte trifft

Der neunjährige Omri (Hal Scardino) bekommt von seinem Bruder einen alten Küchenschrank geschenkt. Als er darin eine kleine Plastikfigur – einen „Indianer“ – einschließt, erwacht diese über Nacht zum Leben. Die Miniatur entpuppt sich als echter Mensch aus dem 18. Jahrhundert: der Irokese Little Bear, gespielt vom Musiker und Schauspieler Litefoot (Cherokee/Wintu).

Ich bin kein Spielzeug. Ich bin ein Mann!

Little Bear

Omri staunt, doch schnell begreift er: Little Bear ist kein Spielzeug, sondern ein Mann mit eigener Kultur, Geschichte und Stolz. Zwischen den beiden entwickelt sich eine ungewöhnliche Freundschaft, die Omri lehrt, Verantwortung zu übernehmen und sich seiner eigenen Macht bewusst zu werden.

Respektvolle Darstellung oder koloniale Fantasie?

Der Film bemüht sich um einen respektvollen Ton: Litefoot spielt Little Bear mit Würde und Ernst, während Regisseur Frank Oz eine indigene Beraterin hinzuzog, um kulturelle Details authentisch darzustellen. Auch die Sprache – teilweise in Onondaga – und die Kleidung wirken sorgfältig recherchiert.

Der Indianer im Küchenschrank Filmkritik

© Paramount Pictures

Trotzdem bleibt die Grundstruktur problematisch: Omri entscheidet, wann Little Bear lebt oder verschwindet. Dieses Machtverhältnis erinnert unweigerlich an koloniale Fantasien, in denen weiße Figuren über indigene Körper verfügen.

Zudem wird die Geschichte ausschließlich aus Omris Perspektive erzählt – Little Bear bleibt Objekt einer kindlichen Entdeckung, kein gleichberechtigter Erzähler seiner eigenen Welt. Die Versöhnungsszene zwischen ihm und dem Cowboy Boone spiegelt zwar Friedenswillen, reproduziert aber Western-Klischees, bevor sie diese auflöst.

Buch und Film im Vergleich

Die Romanvorlage von Lynne Reid Banks war in den 1980ern ein gefeierter Kinderbuch-Erfolg, wird heute jedoch oft als Beispiel für stereotype Darstellung indigener Menschen genannt. Die Autorin beschreibt Little Bear in kolonial geprägten Begriffen – mutig, wild, ehrfürchtig – aber stets durch Omris Blick.

Der Film bemüht sich, diese Stereotypen zu entschärfen. Litefoots Darstellung gibt Little Bear Würde und Selbstbewusstsein, doch die grundlegende Idee – ein weißes Kind kontrolliert das Leben eines indigenen Mannes – bleibt bestehen.

Insofern ist der Film fortschrittlicher als das Buch, aber nicht frei von problematischen Symboliken.

Visuelle Magie und moralische Botschaft

Technisch beeindruckt Der Indianer im Küchenschrank durch seine praktischen Effekte. Alle Miniatur-Szenen wirken auch Jahrzehnte später erstaunlich lebendig, und Frank Oz’ Erfahrung im Puppentrickbereich sorgt für charmante Momente.

Der Indianer im Küchenschrank Filmkritik

© Paramount Pictures

Die Musik von Randy Edelman unterstreicht die Mischung aus Staunen und Melancholie, die den Film prägt. Hinter der warmen Nostalgie steht jedoch eine tiefere Botschaft: Macht bringt Verantwortung und Respekt beginnt mit dem Erkennen des anderen als gleichwertig.

90er-Hollywood: Zwischen Fortschritt und Folklore

Die 1990er-Jahre markierten im US-Kino einen Wendepunkt in der Darstellung indigener Völker. Nach Jahrzehnten von Western-Stereotypen – in denen „Indianer“ meist als namenlose Gegner dienten – bemühte sich Hollywood verstärkt um differenziertere Figurenbilder. Doch dieser Wandel blieb widersprüchlich: Emanzipation und Exotik existierten oft Seite an Seite.

Ein Schlüsselfilm dieser Ära war Der mit dem Wolf tanzt (1990) von Kevin Costner. Der Film zeigte erstmals das Leben der Lakota aus einer empathischen Perspektive, verzichtete auf plumpe Klischees und arbeitete mit echten Stammesmitgliedern. Gleichzeitig wurde er aber auch kritisiert, weil er erneut eine „weißer Retter“-Erzählung wählte.

Der Film gewann sieben Oscars und prägte das Bild vom „edlen Wilden“ für eine ganze Generation neu – ein Bild, das zwar humaner, aber noch immer aus der Perspektive des Westens erzählt war.

Nur fünf Jahre später erschien Disneys Pocahontas (1995), zeitgleich mit Der Indianer im Küchenschrank. Während Disney visuell und musikalisch neue Maßstäbe setzte, wurde die Geschichte erneut durch europäische Augen romantisiert. Die historische Pocahontas – eine versklavte und getaufte Frau – wurde zur Symbolfigur einer unrealistischen Liebesgeschichte verklärt. Auch hier stand nicht die indigene Kultur im Zentrum, sondern ihre Verklärung als moralischer Spiegel für den weißen Helden.

In diesem Umfeld entstand Der Indianer im Küchenschrank – ein Film, der zwar kleiner und persönlicher erzählt, aber ähnliche Muster wiederholt. Der junge Omri ist eine kindliche Variante des weißen Vermittlers: Er entdeckt das „Fremde“, lernt es zu respektieren, bleibt jedoch immer die zentrale Figur der Handlung.

Der Indianer im Küchenschrank Filmkritik

© Paramount Pictures

Während Der mit dem Wolf tanzt das Miteinander sucht und Pocahontas das Märchen erzählt, reflektiert Der Indianer im Küchenschrank das Machtverhältnis – unbewusst, aber deutlich.

Trotz seiner Schwächen zeigt der Film, wie sich die Wahrnehmung indigener Figuren veränderte: weg vom Feindbild, hin zum moralischen Lehrmeister. Doch echte Selbstrepräsentation blieb selten. Erst Jahrzehnte später, etwa in Serien wie Reservation Dogs oder Dark Winds, übernahmen indigene Künstler:innen die Erzählhoheit selbst.

Der Indianer im Küchenschrank bleibt ein faszinierendes Zeitdokument der 1990er-Jahre – ein Film, der mit Herz und guten Absichten erzählt wird, dabei aber ungewollt alte Strukturen reproduziert.

Wer ihn heute schaut, sollte das mit kritischer Perspektive tun: als Beispiel dafür, wie Hollywood in Familienfilmen kulturelle Fremdheit inszenierte – und wie weit die Repräsentation indigener Menschen inzwischen gekommen ist.

Trotz Makel bleibt der Film sehenswert für Diskussionen über Ethik, Verantwortung und kulturelle Sensibilität – und ein magischer Kinderfilm.

Bewertung

Bewertung_7

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Bildrechte: Paramount Pictures

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