Ihre Haare sind braun. Lang und braun. Im flutenden Sonnenlicht wirkten diese fünf wallenden Mähnen manches Mal etwas rötlich wie Kastanien. Und die Mädchen laufen, sie galoppieren, sie springen, ja sie tollen durch das Sommerleben in ihrem kleinen Mikrokosmos: Ein mediterranes Dorf 1000 Kilometer von der großen Metropole Istanbul entfernt.
Hier ist das Leben still und ruhig. Für die Schwesternbande vielleicht eine Spur zu ruhig. Ganz gewiss sogar. Wie können die Erwachsenen überhaupt die Beine stillhalten und tun, was sie immer tun in einer solch herrlichen Gegend? Links das Meer mit seinen Wellen, rechts Serpentinen von Obsthainen gesäumt, durch die die Seeluft fährt. Jede Pore scheint Freiheit zu rufen. „Freiheit! Freiheit! Freiheit und Freude!“ Noch sind die fünf – Lale, Ece, Sonay, Selma und Nur – ahnungslos. Noch lieben sie das Leben, wie nur junge Seelen es tun. Wie Kinder es tun. Sie sind wild und noch geht das in Ordnung. Doch je mehr sie zu Frauen werden, desto mehr müssen sie gezähmt werden. Wenn sie nun „Freiheit“ rufen wollen, wird es ihnen nicht gestattet. Stattdessen werden sie eingezäunt und wenn sie den Anweisungen der Cowboys nicht gehorchen, dann werden sie Sporen zu spüren bekommen.
Es dauert nicht lang bis die aufstrebende französisch-türkische Regisseurin und Drehbuchautorin Deniz Gamze Ergüven dem Zuschauer zeigt, wie ambivalent der eben beschriebene Mikrokosmos ist. Einerseits verzaubern die lichtdurchfluteten, an vielen Stellen dokumentarisch wirkenden Bilder der Kameraleute David Chizallet und Ersin Gok mit ihrem Flair. Das Herz will bei einer solchen Schönheit seufzen. Gleiches gilt für die fünf Schwestern. Nicht nur klingen ihre Namen wunderschön, sondern sie selbst sind es in ihrer ganz variierenden natürlichen Weise.
Die jugendlichen Darstellerinnen tragen den zweiten großen Teil dazu bei, dass der Film über weite Strecken dokumentarisch – ja einfach ganz hautnah und echt – anmutet. Es gelingt ihnen von Minute eins nicht nur an ein echtes Geschwistergespann zu erinnern, sondern eines zu sein. Der Zuschauer, ohne Vorwissen zum Film, wird sich zwangläufig fragen, ob die Fünf nicht wirklich aus einer Familie stammen. Wie das Drehbuch den Mädchen zuspielt und wie stark sie bereits selbst in ihrem jungen Alter agieren, erscheint noch bemerkenswerter, bedenkt man, dass nur Elit İşcan (Ece) schon als Schauspielerin vorher tätig war. Tuğba Sunguroğlu (Selma) kam nicht einmal zum Casting. Regisseurin Ergüven sprach sie kurzerhand an, als sie auf einem Flug mit ihrer Ausstrahlung auffiel. Güneş Şensoy, Doga Doğuşlu und Ilayda Akdoğan stießen dann noch durch ein Casting zum Projekt hinzu und taten sich als echte Glücksgriffe hervor.
Sie alle teilen eine ganze Bandbreite an Szenen miteinander. In manchen dürfen sie bloß herumblödeln. In anderen erwischt sie ein Lachanfall am Esstisch. In wieder anderen sind sie gemeinsam empört, versuchen einander zu schützen, genauso wie sie hier und da gegen einander sticheln und sich aufziehen. Während ihrer gemeinsamen Geschichte entpuppen sie sich als Heldinnen, je enger sich das Lasso der strengen muslimischen Erziehung ihres Onkels um sie zieht.
Nachdem sie einen kleinen Dorfskandal auslösen, weil sie auf den Schultern von Jungen sitzen – sie hätten sich an ihnen „gerieben“, heißt es – versuchen die Großmutter und der Onkel Erol sie nacheinander möglichst schnell zu verheiraten. Erst die Ältesten Sonay und Selma, bis hin zur zweitjüngsten Ece. Zu diesem Zwecke verwandelt sich ihr Haus erst in eine „Hausfrauenfabrik“ und schließlich in ein regelrechtes Gefängnis, was das Genre des Films in der zweiten Hälfte deutlich prägt.
In die Gefühlswelt des Onkels und in die größeren Problemzusammenhänge hinter muslimischen Traditionen nimmt einen die Erzählung nicht mit hinein, jedoch ist das kein flacher, sondern ein sehr raffinierter Zug. Mustang entwickelt sich dadurch nicht zu einem Erklärungsfilm, oder einem hochpolitischen, der bereits die eigene Distanz zum Thema zeigt und es dem Zuschauer so leichter macht, sich selbst davon distanzieren. Stattdessen gelingt Ergüven ein filmischer Gefühlsritt durch die Herzen der fünf Schwestern. Die Kamera bleibt immer auf sie konzentriert und vor allem auf die kleine Lale, die Schritt für Schritt beobachtet, wie ihren Schwestern das Zaumzeug angelegt wird. Dieser Fokus ist so nah und so eindringlich in seiner jugendlichen Einfachheit, dass er all seine Kraft entfaltet. Hier kann niemand auf Abstand gehen.
Wie den jungen Schauspieltalenten nicht anzumerken ist, dass sie neu im Geschäft sind, macht ein weiterer kongenialer Kniff von Regisseurin und Drehbuchautorin Ergüven vergessen, dass Mustang ihr allererster Langfilm ist. In ihrer Art der filmischen Narration hat sie verinnerlicht, was vielen Hollywood-Köpfen des Öfteren abgeht. Sie setzt auf das Alleinstellungsmerkmal der kinematographischen Erzählung schlechthin: Bilder. Ihr Drehbuch fährt an den richtigen Nahtstellen den Dialog zurück und will nicht erklären, sondern überlässt es der Kamera zu zeigen. Deswegen fehlen Mustang jene berüchtigten Filmmomente, die nur in der Dramaturgie vorkommen und nie in der Realität.
Es finden sich weder opulente Expositionen, um den Zuschauer ja in die richtige Richtung zu lenken, noch emotionale Ausbrüche, die so übertrieben gespielt werden, das man sich als Zuschauer nicht positionieren kann, sondern sofort vereinnahmt wird.
Ergüven sagte dazu in einem Interview selbst:
Exemplarisch steht für diese Auffassung jene Szene, in der die beiden jüngsten Schwestern Lale und Ece in ihrem Schlafzimmer die Betten zusammenschieben, sich ihre Badeanzüge anziehen und Schwimmen spielen, weil sie zum echten Meer durch die Gitterstäbe ihres Hauses nicht mehr gelangen können. Die Wechselwirkungen der Dorfgemeinschaft auf die eigene Familie verdeutlichen sich an der Großmutter der Mädchen auf tragische Weise. Das Kopftuch entwickelt sich beinahe zu einer Neurose, die sie nur gefangen hält, wenn sie die vorbildliche Muslima vor anderen Frauen mimen muss. Sie steht exemplarisch für Resignation, für eine gescheiterte Kämpferin um mehr Selbstbestimmung der Frau.Der französische Schriftsteller und Drehbuchautor Romain Gary sagte einmal, er würde gewisse Dinge nicht ausdrücken, denn er habe ein ganzes Regal voller Bücher, die dies schon täten. Und so ist es auch mit dem Film.
Dabei verliert sich der Film nicht in einer Fundamentalkritik am Islam – zum Glück, darf man wohl sagen – sondern geht über religiöse Grenzen hinaus. Auch hier schafft der Streifen den interessanten Spagat zwischen der kleinen Geschichte der fünf Schwestern und der großen Geschichte über Gleichberechtigung, sexuelle Selbstbestimmung und Genderdiskriminierung, die dem Zuschauer nach dem Film noch nachgeht. Mustang stößt an und setzt nicht nur vor. Mustang macht betroffen und berührt, statt zu überrollen.
Der Kontrast zwischen visueller Ästhetik und überzeugendem Darstellerinnenensemble auf der einen Seite und einem harten Kosmos, der Sexualität so tabuisiert, dass er sich wieder sexualisiert auf der anderen weiß aufzurütteln. Die Empathie für die Heldinnen kennt kaum Grenzen. Es ist eine Freude und gleichsam herzzerreißend tragisch Lale, Ece, Sonay, Selma und Nur auf ihrem Galopp zu begleiten.
Mustang ist damit ein Werk über Freiheit, wilde Schönheit, Geschwisterliebe und den Druck patriarchischer Strukturen, zu tiefst nah und anschaulich im Beispiel einer Familie verwurzelt. Ergüvens Coming-of-Age-Drama bietet alles, was anspruchsvolles Kino ausmacht und hat sich die Oscar-Nominierung mehr als verdient.
Regie: Deniz Gamze Ergüven
Drehbuch: Deniz Gamze Ergüven, Alice Winocour
Musik: Warren Ellis
Darsteller: Güneş Şensoy, Doğa Doğuşlu, Elit İşcan, Tuğba Sunguroğlu, İlayda Akdoğan
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