Ein Atem (2015) | Filmkritik

Ein Atem

Ein Atem erzählt die Geschichte von zwei Frauen und zwei Schicksalen. Die eine wohlhabend mit Bilderbuchfamilie, die andere schwanger, ohne Job und Perspektive.

Der Film beginnt in Athen. Griechenland steckt tief in der Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit steigt stetig. Die junge Elena (Chara Mata Giannatou) hofft, den Problemen in ihrem Land entfliehen und eine neue Zukunft in Deutschland aufbauen zu können, auch wenn sie dafür ihren Freund Costas (Apostolis Totsikas) zurücklassen muss.

Elena findet schnell einen Job in einer Bar in Frankfurt. Nach einem Gesundheitscheck werden ihre Zukunftspläne jedoch zerstört, denn Elena ist schwanger und kann nicht länger dort arbeiten. Die junge Griechin findet daraufhin eine neue Arbeit als Kindermädchen bei einem wohlhabenden Paar in Frankfurt. Die Familie besteht aus Tessa (Jördis Triebel), ihrem Mann Jan (Benjamin Sadler) und der eineinhalbjährigen Lotte. Da Tessa nach einer längeren Babypause in ihren Beruf als Managerin wieder einsteigen will, soll Elena auf das kleine Mädchen aufpassen.

Zunächst scheint der gut betuchte Haushalt für Elena wie ein Paradies. Schon bald aber merkt sie, dass die Gastfamilie so manche Launen und Neurosen hat. Als Elena Lotte eines Tages für einen Moment aus den Augen lässt und das kleine Mädchen spurlos verschwindet, gerät Elena in Panik. Sie flieht Hals über Kopf zurück nach Griechenland, um dem Zorn der Eltern und den möglichen Konsequenzen zu entgehen. Unterdessen sind die Eltern durch das Verschwinden ihres Kindes völlig aus der Bahn geworfen. Jan macht seiner Frau bittere Vorwürfe, da Lotte nur wegen Tessas Karrierewunsch einer völlig Fremden anvertraut wurde. Tessa entscheidet sich daraufhin für einen radikalen Schritt: Sie reist nach Griechenland, um Elena und vielleicht auch ihre Tochter wiederzufinden.

Die beiden Protagonistinnen könnten unterschiedlicher nicht sein. Etwas zu klischeehaft wird zu Beginn des Films dargestellt, dass die wohlhabende Workaholic-Mutter und die studierte Griechin, die in Deutschland nur einen Job als Kindermädchen bekommt, so gar keine Gemeinsamkeiten haben. Doch ihre beiden Schicksale werden durch Tessas Tochter Lotte für immer miteinander verknüpft. Als die Frauen nach ersten Konflikten dennoch auf dem Weg sind, so etwas wie Freundinnen zu werden, passiert in einem Moment der Unachtsamkeit die Katastrophe: Die kleine Lotte verschwindet spurlos.

Der Film nimmt sich viel Zeit die beiden Charaktere ausführlich zu beschreiben und ihrer Herkunft zuzuordnen. Das Besondere an dem Drama ist die Teilung der Geschichte in zwei Akte. Im ersten Akt unter dem Titel „Elenas Reise“ erfährt man, wie die entschlossene Griechin auf eine bessere Zukunft hofft und sich gegen den Willen ihres antriebslosen Freundes auf den Weg nach Deutschland macht. Dort trifft sie auf das Paradebeispiel einer stets gestressten Wohlstandsmama und die ersten Konflikte lassen nicht lang auf sich warten.

Mit „Tessas Reise“ als zweiter Akt erfolgt der Perspektivenwechsel. Dieser setzt mit dem Verschwinden Lottes ein. Der einseitige Blick auf Tessa als Bilderbuchzicke mit Luxusproblemen beginnt sich zu verändern und man erfährt, dass sie nur nach außen hin ein perfektes Leben zu führen scheint. Doch hinter der Fassade kriselt es enorm, die Beziehung zu Jan steht auf der Kippe und Tessa kämpft im Job um Anerkennung nach der Elternzeit. Jördis Triebel spielt ihre Figur überaus glaubhaft und verleiht Tessa im Verlauf der Handlung zunehmend sympathische Züge, als hinter der taffen Karrierefrau eine verletzliche, unter Druck stehende Mutter zum Vorschein kommt.

Der zweite Abschnitt rollt dieselbe Geschichte noch einmal neu auf und verleiht dem Geschehen eine unerwartete Intensität. Hier stehen sich eine zerrissene und liebende Mutter auf der Suche nach ihrem Kind und eine Schwangere auf der Flucht vor der Verantwortung gegenüber. Als Zuschauer ist man wie die Protagonistinnen einem ständigen Wechselbad der Gefühle ausgesetzt.

Der Versuchs Tessas in Athen eine Spur zu Elena und ihrer Tochter zu finden, verleiht dem Drama eine ungeahnte Dynamik und wandelt ihn zu einem Thriller, in dessen Höhepunkt beide Frauen aufeinandertreffen. Kameramann Ngo The Chau (Hin und weg, Stereo) bleibt in beiden Akten nah bei den Figuren und verfolgt deren emotionale Reise. Durch die beobachtende Position beginnt man sich in beide Frauen gleichermaßen zu versetzen und ihre Handlungen und Reaktionen zu verstehen. Hier werden Gemeinsamkeiten deutlich, beide wollen sie nicht von ihren Männern abhängig sein, beide sind sie Opfer ihrer Lebensumstände.

Das deutsch-griechische Drama wurde von Grimme-Preisträger Christian Zübert (Dreiviertelmond, Hin und weg) inszeniert, der das Drehbuch zusammen mit seiner Frau Ipek verfasst hat. Sie schufen in Ein Atem natürlich wirkende Dialoge und greifen neben dem Reibungspunkt der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch die Themen Geschlechterrollen, Wirtschaftskrise, Schuld und Vergebung auf. Die Krise in Griechenland und deren Auswirkungen wird aus der Sicht zweier Frauen aus Athen und Frankfurt präsentiert, die trotz unterschiedlicher ökonomischer Voraussetzungen mit vergleichbaren Problemen kämpfen.

Durch die kluge Verbindung zweier Perspektiven, zweier Filmgenres und elegant eingefädelter Gesellschaftsprobleme ebbt das Interesse der ungleichen Figuren, die beide auf der Suche nach ihrer Rolle als Mutter sind, zu keiner Zeit ab. Am Ende überwiegt das Thema Mutterschaft den angesprochenen wirtschaftlichen und genderspezifischen Problemen zwar bei Weitem, dennoch schafft Zübert mit Ein Atem eine anspruchsvolle, aktuelle und durchweg fesselnde Charakterstudie zweier Frauen, die ein gemeinsamer Atemzug verbindet.

Regie: Christian Zübert
Drehbuch: Christian Zübert
Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas
Darsteller: Jördis Triebel, Chara Mata Giannatou, Benjamin Sadler, Apostolis Totsikas, Nike Maria Vassil, Pinelopi Sergounioti, Mary Nanou, Akilas Karazisis

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