Take Shelter – Ein Sturm zieht auf (2011) | Filmkritik

Take Shelter - Ein Sturm zieht auf

Curtis (Michael Shannon) ist ein Mann in den besten Jahren. Während seinem Arbeitskollegen Dewart (Shea Wigham) die Midlife-Crisis zusetzt, macht der ihm das beste Kompliment, das man einem Mann nur machen könnte. „Du hast ein gutes Leben, Curtis“, sagt er ihm eines Nachts beim gemeinsamen Bier und trägt dabei ein melancholisches Lächeln auf den Lippen.

Für Curtis soll dieses Urteil jedoch nur allzu bald Geschichte sein. Denn ihm, jenen Mann, der für eine renommierte Baufirma arbeitet und den seine Frau Samantha (Jessica Chastain) und seine Tochter Hannah (Tova Steward) innig lieben, sucht plötzlich etwas heim.

Es ist etwas, das sein Leben für immer verändern soll. Es beginnt stets mit einem leisen Nieseln. Doch irgendetwas stimmt mit dem Regen nicht. Er ist rostbraun und zäh wie Motoröl. Als nächstes stoßen die Krähenschwärme zur Szenerie. Sie scheinen eine Botschaft in den Himmel zu schreiben. Nur kann Curtis sie nie entziffern. Was wollen sie ihm bloß sagen? Ihm bleibt keine Zeit darüber nachzudenken, denn schließlich geschieht es: Der Sturm kommt!

Noch ist das alles nur ein Traum. Einer der immer wiederkehrt. Wie lange wird das jedoch noch so bleiben? Wann wird aus seiner Fantasie Wirklichkeit werden? Und was muss passieren, ehe seine Liebsten begreifen, was ihnen bevorsteht? Wird es gar zu spät für sie alle sein, wenn sich das scheinbar so unabwendbare Schicksal ereignet?

Einen Ausweg scheint es für Curtis und seine Familie zu geben. Einen Zufluchtsort. Der alte Luftschutzbunker. Dort könnte sie der Sturm niemals erreichen. Für die Restaurierung des Unterschlupfs scheut Curtis also weder Kosten noch Mühen. Er nimmt sogar einen Kredit auf, selbst wenn das die Therapie seiner taubstummen Tochter Hannah gefährdet. Seinen Job riskiert er obendrein.

Als die seltsamen Träume keine Ruhe geben spürt Curtis, dass mehr hinter ihnen steckt als nur ein schlechtes Omen. Er ahnt, dass es nicht sein Schlaf ist, mit dem etwas nicht stimmt, sondern dass er selbst nicht so funktioniert, wie er sollte. Wird ihm seine Mutter, die in einem psychiatrischen Heim wohnt, eine Spur weisen? Oder ist es gar seine Familie, die den Schlüssel zur Lösung seines Problems bereithält? Wäre da nur nicht immerzu dieses Flüstern in seinem Kopf: „Es wird einen Sturm geben, einen, wie ihr ihn noch niemals erlebt habt!“

Was ein Flop an den Kinokassen war, ist in Wahrheit ein wahres Meisterwerk der Filmkunst. Dabei klingt Meisterwerk so hochtrabend und das ist Take Shelter keineswegs. Zu weit ist der Streifen dafür vom Blockbusterkino entfernt. Zu schwer verträglich ist vielleicht sein Thema. Dennoch bleibe ich bei dem Wort Meisterwerk. Schließlich machen die leisen Töne ein Lied oft erst zu dem, was es wirklich ist, nicht wahr? Jene Nuancen sind nicht selten die Garanten für eine unvergleichliche Atmosphäre. Das gilt auch für Take Shelter.

Macher Jeff Nichols (Mud, Shotgun Stories) ist für mich spätestens damit einer der hoffnungsvollsten Sterne am Regie-Himmel. Wie es für ihn und andere Genies seiner Generation typisch ist, saß er nicht nur hinter der Kamera, sondern tüftelte auch am Schreibtisch das Drehbuch aus. Er könnte mit seinem Talent zweifelsohne einer derjenigen sein, die Hollywood eine neue Richtung verleihen, sobald mehr Leute davon Wind bekommen. Schließlich wagt er mit seinem Sturm-Drama aus dem Jahre 2011 Wege, die in den letzten Jahren zunehmend unpopulär geworden sind.

Der Zuschauer wartet bei Take Shelter zum Beispiel vergeblich auf eine konventionelle Einführung in die Geschichte und seine Charaktere. Da gibt es keine billigen Flashbacks oder gar einen ominösen Nebencharakter, der alle offenen Fragen mit einem simplen Dialog beantwortet. Stattdessen tauchen wir ganz schlicht und einfach in das Leben eines Mannes ein und beobachten Schritt für Schritt, wie es bei ihm Kapriolen schlägt. Wir können hier und da erahnen, was hinter der nächsten Ecke wartet, aber da ist stets eine Ungewissheit. Eine Ungewissheit, die ja auch Curtis Tag ein Tag aus beherrscht.

Wir durchschauen ihn nicht sofort, fragen uns genau wie er, was er nun wirklich ist: Prophet oder Psychopath? Für diese aufwühlende Reise schnürt uns Regisseur Jeff Nichols ein audiovisuelles Prachtpaket. Er weiß, in welchen Momenten die Töne schweigen müssen und wählt für die richtigen Momente einen oscarreifen Soundtrack, der wie ein Regen leise ans Fenster klopft. Geheimnisvoll und bei Zeiten beunruhigend.

An anderen Stellen begegnen uns große Bilder, die auf eine andere Weise doch so zerbrechlich klein sind, als würde der Mikrokosmos unseres Protagonisten in ihnen schimmern. Michael Shannon tut natürlich ebenfalls sein Bestes, um die Filmerfahrung so spannend wie möglich zu gestalten. Und das ist ihm mit Bravur gelungen. Hand aufs Herz – was dieser Mann auf die Leinwand bringt, gehört definitiv zu den besten Leistungen, die ich jemals bestaunen durfte. Ich teilte den gesamten Film über seine Anspannung und litt mit ihm.

Seine Performance geht unter die Haut, keine Frage. Und das ist freilich nicht immer angenehm. Es wühlt einen auf. Jedoch ist das kaum verwunderlich. Wie könnte es schließlich anders sein, wenn ein Mann allmählich dahinter kommt, dass jene Paranoia, die bereits seine Mutter plagte, auch vor ihm nicht Halt macht?
Wer für solch ein Abenteuer nicht bereit ist sollte lieber die Finger von diesem Drama lassen. Wer das Wagnis aber eingeht, dem verspreche ich einen Film, den er so schnell nicht vergisst. Take Shelter ist für seinen Helden Curtis eine Offenbarung und eine Katharsis zugleich. Für uns ist der Streifen ein Wirbelsturm voller Gedanken, voller Ängste, aber auch voller Liebe und Mut.

Neben all den Reboots, Superheldenfilmen, Spin-Offs, Sequels und Prequels der letzten Zeit scheint mir Take Shelter damit die Bezeichnung Kino umso mehr verdient zu haben. Dieses Werk ist eine Seltenheit unter seinen Zeitgenossen. Ihm ist nämlich nicht nur pure Unterhaltung gelungen, sondern vor allem der Sprung in meine Realität. Der Funke ist tatsächlich übergesprungen. Curtis kehrte noch tagelang immer wieder in meine Gedanken zurück. Er schien mir unablässig etwas zu flüstern: „Es wird einen Sturm geben, einen, wie ihr ihn noch niemals erlebt habt!“

Trailer

Cast & Crew

Regie: Jeff Nichols
Drehbuch: Jeff Nichols
Musik: David Wingo
Darsteller: Michael Shannon, Jessica Chastain, Shea Whigham, Katy Mixon, Kathy Baker

Bewertung

Ähnliche Beiträge

Megalopolis (2024) | Filmkritik

Der dritte Mann (1949) | Filmkritik

Tanz der Vampire (1967) | Filmkritik