National Gallery (2014) | Filmkritik

National Gallery

Mit einem etwas anderen Film starten wir unser Kinojahr 2015. National Gallery ist das 42. Werk des amerikanischen Dokumentarfilmmachers Frederick Wiseman. Er nimmt uns mit auf einen außergewöhnlichen Museumsbesuch in die Londoner Nationalgalerie.

Zwischen 2011 und 2012 verbrachte Wiseman zwölf Wochen in einer der berühmtesten Kunstsammlungen der Welt und dokumentiert die Geschehnisse vor und hinter den Kulissen. Er zeigt einige der größten Kunstwerke unserer Zeit, ihre Geschichte und ihre Besucher. Gleichzeitig gelingt ein Blick in die Museumsleitung mit Marketing und neuen Ideen, um Turner, Rembrandt oder Leonardo einem modernen Publikum zu öffnen.

Es ist kein gewöhnliches Sonntagabend Popcornkino was uns Wiseman hier präsentiert. Mit vornehmer Zurückhaltung führt der Regisseur uns durch einen 3-Stunden-Crashkurs über die Kunst und ihren Platz in unserer Zeit. Er stellt die Frage, was diese Meisterwerke heute noch zu erzählen haben und wie sie dem Besucher vermittelt werden. Was steckt hinter einem solchen Museumsbetrieb und wie lässt sich eine solche Institution modern vermarkten?

Wiseman schafft den Spagat und porträtiert beides – die Kunst und ihre Vermittler. Dabei vergisst der Zuschauer recht schnell den Kinosessel unter sich und taucht ein in die faszinierende Welt der Ausstellung.

Die besondere Atmosphäre des Films entsteht durch den klassischen Direct-Cinema-Stil in dem er gedreht wurde. Keine Musik, kein Kommentar, keine Interviews wie man es aus anderen Dokumentarfilmen vielleicht gewohnt ist. Wiseman ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein stiller Beobachter.

Er zeigt die verschiedensten Aspekte, die eine Ausstellung mit sich bringt: wir begleiten Gästeführer mit ihren Gruppen, besuchen einen Kunstkurs für Sehgeschädigte, in denen ihnen mit Hilfe von Reliefbildern berühmte Kunstwerke vermittelt werden, schauen Schülern in einem der Zeichenkurse über die Schulter oder beobachten, wie filigrane Restauratoren Jahrhunderte alte Gemälde wieder zum strahlen bringen.

Auf der anderen Seite schafft Wiseman auch einen Einblick in die wirtschaftliche Seite einer solchen Institution. Planung neuer Ausstellungen, Vermarktung, Öffentlichkeitsarbeit. Schnell wird dem Zuschauer klar, dass viel mehr in der National Gallery steckt als eine ganze Menge alter Bilder.

Mit seinem Stil hebt sich Frederick Wiseman von vielen seiner Kollegen ab. Er lässt die Bilder und die Menschen sprechen. Seine Geschichten erzählt er mit Hilfe von thematischen Szenen. Kommentare und Chronologie lässt er dabei außer Acht. Um diese Intimität sicherzustellen sammelt der Regisseur kein großes Team um sich. Den Ton nimmt Wiseman selbst auf, seinen Kameramann dirigiert er durch Zeichen. Den Schnitt nimmt er anschließend wieder selbst in die Hand. Wichtig ist dem Regisseur vor allem das eigenständige Denken des Zuschauers. Personen werden nicht vorgestellt, es gibt keine Einblendungen ihres Namens und ihrer Position. Alle wichtigen Informationen kommen aus dem was wir sehen und hören.

Der Zuschauer als Beobachter bekommt bei all dem nie das Gefühl in einer Szene zu stören oder fehl am Platz zu sein. Die Szenen filmt Wiseman oft aus der zweiten, dritten Reihe oder vom Rand. Immer genau so als würde man sich unsichtbar durch die Ausstellung bewegen und überall Mäuschen spielen. Dadurch gelingt es recht schnell sich voll und ganz in das Geschehen sinken zu lassen.

Zugegeben, ein dreistündiger Dokumentarfilm über ein Museum mit Gemälden aus dem 13. – 19. Jahrhundert klingt trocken. Aber National Gallery ist kein langweiliger Kulturtrip. Wer sich mit Kunstgeschichte nur wenig auskennt bekommt hier eine wunderbare Einführung ohne dabei mit Informationen überschüttet zu werden. Und wer in der Kunst schon fortgeschritten ist, und weiß was uns der Künstler damit sagen wollte, der bekommt in diesem Film die Chance auch einmal hinter die Kulissen zu sehen. Wie sieht es aus hinter den Ausstellungswänden? Welche Schätze treten bei der Restauration noch zum Vorschein? Vor welchen Problemen stehen die Klassiker in unserer modernen Zeit?

Wer also Lust auf Kino hat: Warum nicht mal einen Dokumentarfilm sehen und ganz nebenbei nicht nur eine, sondern viele Geschichten erzählt bekommen? National Gallery ist auf jeden Fall einen Besuch wert.

Handlung:

Fotos


alle Bilder >>

Bildrechte: good movies!

Ähnliche Beiträge

Anima – Die Kleider meines Vaters (2022) | Filmkritik

Harry Potter 20th Anniversary: Return to Hogwarts (2022) | Filmkritik

Free Solo (2018) | Filmkritik