Im Jahr 2022 zu konstatieren: „Das Internet bestimmt inzwischen das Leben aller Menschen maßgeblich“, wäre ungefähr so erkenntnisträchtig wie die Aussage: „Wasser ist nass.“
Jeder hierzulande weiß um die Bedeutung des Internets. Was aber viele – gerade die Digital Natives – vielleicht kaum noch vorstellbar finden, ist eine Zeit, als diese Technologie noch in den Kinderschuhen steckte. Mitte der 1990er Jahre hätte Angela Merkel mit ihren Worten von 2013 noch einen Nerv getroffen: Da war das Internet tatsächlich für alle Neuland.
Als das Internet tatsächlich noch Neuland war
Sogar in den Kreisen der Eliten und der High Society unterschätzten viele diese Fortschrittstechnologie. Die boomende Suchmaschine hieß damals noch nicht Google (Google war nicht einmal geboren), sondern Altavista. Na, wer kennt den Namen noch? Ich auch nicht!
Gerade einmal 30 Millionen Menschen weltweit waren „online“ und selbst Mega-Stars hatten keinen Modem-Anschluss.
Auch die wirtschaftlichen Potentiale einer weltweiten Vernetzung per Mausklick waren noch kaum zu ermessen. Doch eine Handvoll Menschen hatte gleich zu Beginn den richtigen Instinkt. Sie würden zu den großen Profiteuren eines exponentiell steigenden Weltmarktes werden. Und wie bei allen solchen technischen Innovationen der Postmoderne war die Erotik- und Pornoindustrie ganz vorne dabei.
Wer von dieser Gemengelage lange rein gar nichts ahnt, sind zwei VIPs der 90er Jahre. Der eine befindet sich auf dem absteigenden Ast: Mötley-Crües exhibitionistisch veranlagter Schlagzeuger Tommy Lee (Sebastian Stan) macht inzwischen mehr Schlagzeilen mit seinem exzentrischen und bisweilen rüpelhaften Auftreten als mit seiner Musik. Das andere Sternchen aber ist die Frau der Stunde. Pamela Anderson (Lily James) ist nicht nur Hugh Hefners Playmate des Jahrzehnts, sondern ganz nebenbei der Star in Baywatch (1989-2001), der zeitweise erfolgreichsten US-Fernsehserie des 20. Jahrhunderts.
Pam & Tommy… & Rand
Als Pam und Tommy sich innerhalb von vier Tagen kennenlernen, Hals über Kopf verlieben und auf der Stelle heiraten, geht für die Boulevard-Presse ein Traum in Erfüllung. Paparazzi überall. Doch das kümmert die beiden kaum. Tommy vergöttert Pamela und Pamela liebt Tommys Spontanität und seine Begeisterung für alles, was sie tut und verkörpert. Bald schon wird Pamela schwanger. Es könnte kaum noch schöner sein, wenn Tommy nicht das Karma einer vergangenen Begegnung langsam einholen würde. Denn fernab von all dem Geld und Glamour schmiedet Rand Gauthier (Seth Rogan), ein von Tommy gedemütigter und um seine Auslagen geprellter Handwerker, Rache.
Eigentlich will er sich nur zurückholen, was ihm zusteht. Doch nachdem er einen Safe aus Pamelas und Tommys Haus entwendet, fällt ihm unverhofft etwas in die Hände, womit er viel mehr Geld zu machen glaubt, als er in seinem Leben je verdienen könnte: Er findet eine kleine Kassette – ein Urlaubsvideo – ein sehr pikantes und explizites Video – das Celebrity-Sextape, was jeder – und das weiß Gauthier genau – sehen wollen wird.
Mit Pam & Tommy läuft nun eine achtteilige Miniserie des Showrunners Robert Siegel (Drehbuch The Wrestler, The Founder) in der Erwachsenen-Sparte von Disney+ (Star-Channel). Und wer dabei ins Zweifeln kommt, ob das Format unter Disneys Ägide überhaupt den nötigen Realismus bei der Darstellung von Sex, Drugs und Rock’n Roll entfalten darf, der sei beruhigt: die Serie ist explizit in jeder Hinsicht. Aber – und das sei auch gleich klargestellt –, es ist eine Drama-Serie mit einem sehr ernsten Kern.
Der Zuschauer als Mittäter
Zwar sind gerade die ersten Folgen ziemlich lustig und bringen einige Momente Popcorn-Unterhaltung hervor, auch erotisches Knistern gibt es so manches Mal zu spüren, aber dabei niemals in einer Weise, die Pamela Andersons Charakter zwecksexualisieren würde. Es gibt viel nackte Haut zu sehen, aber beispielsweise keine langen Zoom-Shots oder unnötige Darstellung von Nacktheit, wenn sie nicht für die Handlung nötig wäre. Aus dem berühmt-berüchtigten Sextape der beiden Stars, das illegal über das Internet vertrieben wurde, sehen die Zuschauerinnen und Zuschauer kaum nachgestellte Szenen.
Nie sind es mehr als Sekundenbruchteile. Und damit sendet das Regieteam aus Craig Gillespie (Cruella, I, Tonya), Gwyneth Horder-Payton (American Horror Story, Pose), Lake Bell (Darstellerin in No Escape, Freundschaft Plus) und Hannah Fidell (A Teacher) gleich eine wichtige Botschaft. Nicht erst, wer dieses private Liebesvideo weitersendet, sondern schon, wer es bloß ansieht, macht sich zum Mittäter oder zur Mittäterin bei dem unrechtmäßigen Übergriff auf die Intimität des Paares Pamela und Tommy.
Die Schauspielleistungen der Hauptfiguren sind schlichtweg großartig. Nicht nur sehen Lily James (Mamma Mia, Baby Driver, Yesterday) und Sebastian Stan (The Devil all the Time, The Return of the First Avenger, Falcon & the Winter Soldier) genauso aus wie Pamela und Tommy, sondern auch ihre Stimmfarben sind auf den Punkt. Man könnte die beiden mit ihren lebenden Vorbildern verwechseln.
Comedy, Erotik & Drama
Aber auch Seth Rogen (Superbad, Bad Neighbors, Long Shot), der Künstler des infantilen Sex-Humors, spielte wohl noch nie zuvor eine so ernste Rolle wie hier. Seine Figur ist ein Mythos. Tatsächlich wurde bis heute nicht geklärt, wer den Safe des Ehepaares Lee mitsamt Sextape darin einst gestohlen hat. Doch die Parallelmontage dieser beiden so unterschiedlichen Leben ist eine gekonnt erzählte Theorie, was im Geheimen wirklich passiert sein könnte. Da ist das echte Superstar-Paar und dann dieser kreative und esoterisch angehauchte Nobody Rand Gauthier, der sich zum Agenten des Karmas aufwirft, um seine Rache zu bekommen und dabei für eine kurze Zeit zum Mastermind des illegalen Pornohandels avanciert, nur um dann von seinen eigenen Dämonen wieder ausgemustert zu werden.
Die Narration schlägt furios ein. Die Serie beginnt mit einem schrillen Feuerwerk an Comedy, einer gewissen sommerlicher Leichtigkeit, gespickt von überstilisierten und nicht selten selbst gekonnt komödiantisch gebrochenen Erotikszenen. Doch nach Folge vier, also genau ab der Hälfte, ist damit Schluss. Von Szene zu Szene wird die Geschichte bedrückender. Sie erweckt in einem echte Empathie vor allem, aber nicht nur für Pamela. Genauso bedauernswert ist es mit anzusehen, wie Tommy Lee sich selbst im Weg steht, wie die Ehe zwischen Pamela und ihm zum Scheitern verurteilt ist, obwohl sie ineinander – wie sie selbst sagen – tatsächlich echte Liebe gefunden hatten.
Die Gesellschaft hat sich an Pamela Anderson versündigt
Sogar für Rand Gauthier muss sich das Herz zuletzt erweichen. Nicht weil man vergessen würde, was er Unmoralisches getan hat, sondern weil man erkennen muss, dass er das in einem erbärmlichen Moment seines Lebens tat. Am wichtigsten bleibt aber natürlich Pamela Andersons Reise.
Gerade in der Folge Jane Fonda lernen wir sie, die einen vorher bereits mit ihrem verzaubernden Auftreten und ihrer sympathischen Art gewonnen hatte, das erste Mal als eine starke Frau mit Visionen kennen. Dass es die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer wohl überrascht haben dürfte, eine solche Seite von Pamela Anderson zu erleben, entlarvt bereits ein ungutes Vorurteil, was zumeist die Rezeption von Sexsymbolen in der öffentlichen Meinung beherrscht. Das geleakte Sextape löst einen Erdrutsch in Pamelas Leben aus. Ihre Karriere steht auf dem Spiel, sie bekommt bei jedem Interview das sie nun gibt, unverschämte Fragen gestellt.
Bald weiß sie, dass die meisten Menschen, die auf der Straße an ihr vorbeilaufen, sie so gesehen haben, wie sie es nie wollte. Die Gesellschaft hat sich an Pamela Anderson versündigt. Und vor allem Männer sind es, die von der Serie zur Buße aufgerufen werden.
Ausnahmslos alle Männer in dieser Serie verkörpern Aspekte der schon seit einigen Jahren, aber immer noch brisant diskutierten sogenannten toxischen Männlichkeit (toxic masculinity). Wenn auch solche terminologischen Zuspitzungen nie dabei helfen, komplexe, multikausale Probleme zu verstehen, so fordern sie doch konstruktiv dazu heraus, einen Perspektivwechsel einzunehmen. In diesem konkreten Fall: wie versteht sich ein Mann als Mann? Und was an diesem Selbstverständnis von Männlichkeit ist beim genauen Hinsehen ungesund, ja schädlich für andere Menschen oder für den betreffenden Mann selbst?
Ein Kunstwerk mit provokativer Simplifizierung
An einem Punkt im Film sagt Rand Gauthiers Exfrau zu ihm: „Yeah, you’re are not the nicest gender.“ („Ja, ihr seid nicht gerade das tollste Geschlecht.“) Man kann diese Dialogzeile eingebettet in ein Drehbuch, in dem ausnahmslos alle Frauen einander unterstützen und ausnahmslos alle Männer problematische Figuren sind, als Simplifizierung der Welt verstehen. Und damit hätte man natürlich recht.
Sich darüber aufzuregen, ergibt trotzdem keinen Sinn. Denn was im Kunstwerk der Serie gesprochen wird, sollte auch in der Binnenlogik des Kunstwerkes verstanden werden. Natürlich ist Pam & Tommy kein Biologie- oder Psychologielehrbuch über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Geschlechter.
Natürlich ist Pam & Tommy auch kein gesellschaftspolitischer Podcast oder eine sozialwissenschaftliche Doktorarbeit. Pam & Tommy ist ein Kunstwerk, das mithilfe von provokativer Simplifizierung eine „Moral von der Geschichte“ erzählen möchte. Und dafür ist es in Ordnung, ja in diesem Fall sogar notwendig, die Story um das berühmteste Celebrity-Sex-Tape genauso zu illustrieren.
Damit diese Reise gelingt, nutzen die Macherinnen und Macher von Pam & Tommy das herkömmliche Erzählrepertoire in einem erfrischenden Mix: Zum einen erleben wir Provokation durch Simplifizierung, so wird künstlerisch der Finger in Wunde gelegt. Genauso gibt es aber auch Figuren und Momente in der Serie, die sich der tatsächlichen Komplexität der Verhältnisse voll und ganz verschreiben. Am deutlichsten wird das an der titelgebenden Liebesgeschichte von Pamela und Tommy.
Das gekonnte Spiel mit den Klischees
Dabei werden bei der Charakterzeichnung immer wieder Klischees aufgebaut, um sie dann gezielt zu unterlaufen. Beispielweise schließt Pamela nur wenige Minuten vor der ersten Begegnung mit Tommy einen Pakt mit ihren Freundinnen, der lautet: „Keine Bad Guys mehr“. Dann kommt Tommy mit seiner Rockerattitüde daher und gewinnt sie im Sturm. Was für ein Klischee.
Hollywood-Basis-Repertoire mit allem Drum und Dran. Tommy tritt als ein Romeo auf, der die Grenzen der Angebeteten stumpf ignoriert. Er folgt ihr zu einem Geschäftstermin. Vier Tage später heiraten die beiden. Liebe auf den ersten Blick? Abgedroschener kann man es sich kaum vorstellen. Das Besondere ist aber, was sich dann entwickelt. Ohne dass Tommy weichgespült wird oder Pamela alles verleugnet, wofür sie steht, entwickeln sich diese Charaktere tatsächlich zu einem echten, authentischen Liebespaar, das auch das Herz der Zuschauerinnen und Zuschauer im Sturm erobert.
Sie steigen tatsächlich nicht sofort miteinander ins Bett, sondern agieren die Faszination füreinander aus, indem sie sich Zeit füreinander nehmen. Und dieser Ritt zwischen aufgebauten, dann aber unterlaufenen Klischees zieht sich über die gesamte Lauflänge durch. Damit löst die Serie im Kleinen auch genau das ein, was sie im Kern zusammenhalten soll und sie im Großen erzählen will: nämlich die Geschichte einer Frau, die in ihrem Leben regelmäßig gegen Klischees kämpfen musste, die ihr andere entgegenbrachten und wie es ihr in diesem Kontext durch alle Miseren und Ungerechtigkeiten hindurch gelang, sich selbst zu bewahren.
Parallel dazu entpuppt sich Pam & Tommy als medienkritischer Kommentar. Die quasi rechtsfreien Räume des Internets machten den Massenvertrieb eines privaten Sextapes überhaupt erst möglich. Zunächst via Online-Bestellformular und bald darauf auch als Stream. Und heute hat sich die Situation in vielerlei Hinsicht nicht wesentlich zum Besseren gewandelt, was den Schutz der Privatsphäre im Internet angeht. Nur sind heute weit mehr als 30 Millionen „online“. Auch einige Jahre nach dem Skandal des gestohlenen Sextapes von Pamela und Tommy, ereigneten sich ähnliche Fälle.
Die Hochzeit der Sextapes
2004 veröffentlichte Rick Salomon, der Ex-Freund von Paris Hilton gegen ihren Willen ein privates Sex-Video im Internet und auf DVD. Das gleiche geschah mit privaten Aufnahmen von Kim Kardashian im Jahr 2007. Nichts war dagegen zu tun und selbst wenn man es hätte punktuell verbieten können, wäre es wohl unmöglich, diese Aufnahme völlig auszuradieren. Wer außerdem in den Zeit-Podcast „Ist das normal?“ mit der Kulturwissenschaftlerin Madita Oeming (Folge vom 17.01.22) hineinhört, der lernt, dass mit dem Untergang des filmisch produzierten Pornos und dem Aufstieg der Internetpornographie, natürlich auch die Missachtung der Privatsphäre wesentlich einfacher wurde. Videoschnipsel können heute überall und einfach hochgeladen werden, ohne dass die Creator dafür um Erlaubnis gebeten, geschweige denn bezahlt werden.
Allerdings macht es sich die Serie nicht so einfach bloße Medienschelte zu betreiben, nach dem Motto: früher, als es das Internet noch nicht gab, war alles besser und ging moralischer zu. Stattdessen muss man beim Besehen dieses Werkes feststellen, was der deutsche Aphoristiker Roger Pfaff prägnant so beschreibt: „Das Internet erschafft keine neue Gesellschaft, es spiegelt nur die Gesellschaft wider.“
Die Menschen hinter der Nacktheit
Die Paparazzi auf der Straße, Anwälte, die ihre eigenen Interessen folgen, Finanziers mit Profittrieb, aber auch die scheinbar unbedeutenden Menschen mit Wut und Verletzung im Bauch, Stars, die sich alles erlauben können. Schlicht, Menschen, die über der Befriedigung ihrer Bedürfnisse die Menschlichkeit ihres Gegenübers ignorieren sind die Antagonisten dieser Serie. Und das Internet spielt seine zweifelhafte Rolle als ein Medium, was es diesen Menschen möglich macht, unsichtbar zu bleiben.
Pam & Tommy setzt dieser Negativität aber etwas entgegen. Die Serie schafft Pamela Anderson und auch ihrer Beziehung mit Tommy Lee ein Denkmal. Wir können es beschauen, bestaunen, darüber philosophieren und daran verstehen lernen, dass Menschen hinter den Vorurteilen, die wir ihnen entgegenbringen, oft viel faszinierender sind, als wir ihnen zugestehen.
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