Nightmare Alley (2021) | Filmkritik

Es prasselt auf die Zelte des Jahrmarkts. Dazwischen gießt es wie zu Zeiten der Sintflut. Der Wind heult zwischen den eingemotteten Fahrgeschäften. Regen und Sturm. Und nichts sonst. Die Kleider kleben einem durchnässt am Leib. Die kalte Feuchte ist so erbarmungslos, dass sie bis in die Knochen zieht und irgendwann in den nächsten Stunden wird jeder, der hier draußen ist, vergessen haben, wie sich Sommer anfühlt.

Die bedrohliche Magie des Jahrmarkts

In einer solchen Nacht steigt ein Mann an der Endstation aus einem Greyhound-Bus. Direkt vor dem unter Dunkelheit und Regen vergrabenem Jahrmarkt. Es wirkt nicht so, als hätte er hier aussteigen wollen, sondern eher, als wäre es ihm ganz egal, wo er aussteigt, solange es möglichst weit weg ist. Weit weg von dem, was er zurückgelassen hat. Mehr als die Kleider am Leib und einer Tasche trägt er nicht bei sich. Ein Nobody, ohne Geschichte, ohne Vergangenheit.

© The Walt Disney Company Germany

In dieser Stimmung beginnt Guillermo del Toros neuester Spielfilm Nightmare Alley, der in den folgenden 150 Minuten die Geschichte von Stanton Carlisle (Bradley Cooper) erzählt, der in den 30er-Jahren auf einem Jahrmarkt als Tagelöhner anfängt und dort alle Facetten der charmanten Täuschung zu meistern lernt.

Gefangen zwischen Show und Realität

Besonders die Show der Wahrsagerin Zeena (Toni Collette) und ihres Mannes Pete (David Strathairn) hat es ihm angetan. Und so begibt er sich von dort aus auf eine Reise in die Großstädte der USA, um schließlich Der große Stan zu werden, ein gefragter Mentalist, der bei seinem Aufstieg aus dem Schlamm vergisst, wo die Show aufhört und das echte Leben mit Konsequenzen beginnt.

Mit Nightmare Alley nimmt sich der oscarprämierte Regisseur del Toro (Shape of Water, Pans Labyrinth) dem Stoff des gleichnamigen Romans (1946) von William Lindsay Gresham (1909-1962) an, der bereits 1947 einmal von Edmund Goulding (1891-1959) verfilmt wurde (erschienen in Deutschland unter dem Titel Der Scharlatan). Del Toro betont allerdings, dass es sich bei seinem Film nicht um ein Remake handele. Seine Co-Drehbuchautorin Kim Morgan und er hätten den alten Film kaum konsultiert, sondern sich ganz darauf konzentriert, die Atmosphäre des Buchs einzufangen.

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Und atmosphärisch ist der Film tatsächlich geworden. Das Noir-Flair ist für jeden Fan dieser Genre-Richtung eine große Freude. Diese Ästhetik des Schmutzes, des Regens, der Dunkelheit, von der die Figuren umgeben sind, unterstreicht die Filmmusik aus der Feder von Nathan Johnson (Knives Out) perfekt und taucht alles in die Stimmung eines Schauermärchens. Noch beeindruckender ist tatsächlich nur das Produktionsdesign, das Tamara Deverell (Star Trek: Discovery, Suits) verantwortete.

Die Kälte des Winters

Der Jahrmarkt mit seinen abgerockten Zelten, den verwinkelten, vom Wetter zerfurchten Gassen, die knarzenden Apparaturen der Geisterbahn sind so hässlich und doch so schön, dass sie die Zuschauerinnen und Zuschauer in diesen Mikrokosmos hineinsaugen. Und auch später, wenn Stanton Carlisle in der großen Stadt lebt, kann man nicht anders als sich sattsehen.

Dann umfängt der Winter alles. Aber nicht nur draußen, auch in den Räumen und Fluren spürt man die Kälte. Am faszinierendsten beschaut sich das ausufernde Prachtbüro der Psychologin Dr. Lilith Ritter (Cate Blanchett), einer bitterböse Femme fatale, die den zweiten Teil des Filmes mit ihrer Präsenz maßgeblich bestimmt. Jede Szene mit Blanchett in diesem Büro, das in den Ecken voller düsterer Geheimnisse steckt, ist hervorragend.

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In Hinblick auf Guillermo del Toros Filmographie bietet Nightmare Alley etwas Neues. Erstmals seit seinem Durchbruch mit den Comic-Verfilmungen Blade II (2002) und vor allem Hellboy (2004) erzählt del Toro eine Geschichte ohne das Übernatürliche. Hatte er in seinen Filmen stets die Liebe für das Monströse bebildert, so sind es hier zwar wieder die Freaks, die sich die Sympathie des Publikums verdienen.

Ein visueller Traum, aber ein Alptraum des Tempos

Doch Kreaturen, Geister oder fantastische Wesen sucht man nun vergebens. Und so wird noch klarer als in del Toros vorherigen Filmen: die scheinbar normalen, charmanten, auf der Oberfläche erfolgreichen Menschen sind es, die sich zu wahren Monstern entwickeln. Die Heldenreise des Mentalisten Stanton Carlisle, den seine Gier nach mehr Macht und Geld zu Fall bringt, zeigt del Toro im Ausmaß einer griechischen Sage, nur diesmal völlig ohne das Fantastische. Ihm ist damit eine moderne Aktualisierung des Mythos gelungen, die Anerkennung verdient.

Doch bei alle dem, was an Nightmare Alley zu loben ist, hat der Film leider narrative Stolpersteine. Del Toro sagte jüngst in einem Interview über seine filmische Adaption des Romans von Gresham: „Was ich am Buch liebe ist, dass es sich um zwei Geschichten handelt: eine auf dem Jahrmarkt, die andere in der Großstadt. Deshalb wollten wir auch ein Happy End in der Mitte haben, und dann den Schnitt zu einem zweiten Film“ (Cinema 02/2022, S. 72). Vom Setdesign sowie von der Stimmung her ist es dem Filmteam und auch den Schauspielerinnen und Schauspielern zweifelsohne gelungen, diese Zweiteilung zu transportieren. Dramaturgisch hat ebenjener Wechsel allerdings auch eine Reihe an Nachteilen.

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Am Ende des ersten Teils verliebt sich Stanton Carlisle in die Schaustellerin Molly (Rooney Mara). Sie beide brennen gemeinsam durch und Stanton wünscht sich, dass sie die Assistentin in seiner großen Show wird. Genauso geschieht es dann schließlich auch, doch vom Weg dorthin sehen die Zuschauerinnen und Zuschauer keine einzige Episode.

Keine Zeit für Liebeleien

Molly und Stanton verlieben sich Hals über Kopf, steigen in ein Auto und in der nächsten Szene sind zwei Jahre vergangen. Nach einer Show raunt Stanton seine Partnerin bloß an, dass sie es wieder vermasselt habe. Die Beziehung zwischen den beiden steht unter Spannung. In einem 150 Minuten langen Film vollzieht sich dieser Wechsel derart abrupt, dass er emotional nicht funktionieren kann. Denn leider verwendet die Erzählung auch in der ersten Hälfte auf dem Jahrmarkt nur wenig Zeit darauf, zu zeigen, wie sich Molly und Stanton wirklich verlieben.

Überhaupt erfährt man über Mollys Charakter über die gesamte Lauflänge rein gar nichts, was von Bedeutung wäre. Sie ist verloren im Traum des machtbesessenen Stanton. Keine Frage, das versteht man im Kopf. Aber im Herzen, im empathischen Zentrum, kommt das nicht an. Molly ist einem eigentlich egal. Sie ist ein verschenkter Charakter. Das wird spätestens dann klar, als es gegen Ende des Films zu einem offenen Disput zwischen den Liebenden kommt.

Eine Beziehung ohne Knistern

Molly ist unter anderem eifersüchtig darauf, dass Stanton so viel Zeit mit Dr. Lilith Ritter verbringt. Sie wittert eine Affäre und wirft Stanton entgegen: „Du fickst sie doch. Mich fickst du jedenfalls nicht mehr.“ Diese Dialogzeile offenbart, was für eine Schieflage in der Charakterzeichnung herrscht. Dieser Satz, diese Wut von Molly geht vollkommen ins Leere. Denn kein einziges Mal konnte das Publikum spüren, dass zwischen Stanton und Molly so etwas wie Erotik herrschte, echte knisternde Anziehung. Nicht mehr als einen flüchtigen Kuss kann man in den Szenen vorher beobachten.

Und so ist das emotionale Gewicht dieses Satzes nur künstlich schwer. Dasselbe ließe sich über den Protagonisten in Gänze sagen. Im zweiten Teil des Films, der in der Stadt spielt, haben sich die Zuschauerinnen und Zuschauer so schnell von Stanton Carlisle entfremdet, dass der emotionale Spannungsbogen seines Verfalls wie ein ausgeleiertes Gummiband nicht mehr wirklich kraftvoll zurückschnallt. Und dabei hätte der Film dafür die Zeit gehabt. Stattdessen schaut er sich gerade im letzten Drittel teilweise sehr zäh und man kann nur hoffen, dass in Hollywood bald endlich einmal wieder kürzere Filme gemacht werden.

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Insgesamt bleibt Nightmare Alley ein empfehlenswerter Film. Es gibt viel zu lieben, von der Musik, über das Schauspiel und das wundervolle Design. Und es gibt einiges zu kritisieren.

Der Film ist auf der Ebene des audiovisuellen Erlebens wunderschön, echtes Filmhandwerk, das die Unterstützung am Box Office verdient und der großen Leinwand Würde verleiht. Kurzum: Guillermo del Toro hat wieder einmal – und nichts anderes sollte man von ihm und seinem Team erwarten – ein Stück Kinokunst hervorgebracht. Auch auf der intellektuellen Ebene gibt das Werk viel Stoff zur Betrachtung und Diskussion.

Ein schleichender Noir-Thriller

Mythenhafte Stoffe in aktualisierter Form mit der Historie der jüngeren Vergangenheit zu verweben, beherrscht del Toro wie wenige andere in Hollywood. Und trotzdem geht das Ganze nicht vollends auf. Denn dafür fehlt es an einer Dramaturgie der Nähe. Natürlich muss nicht immer alles ans Herz gehen und ein guter Protagonist muss auch nicht zwangsläufig eine Identifikationsfigur sein. Unzählige Anti-Helden haben das bewiesen. Diesem konkreten Film hätte es jedoch besser getan, wenn er einem Mitgefühl abgerungen hätte.

Wenn einen die epischen Bilder über die lange Laufzeit nicht nur hätten staunen, sondern auch seufzen lassen. Del Toro sagte über sein eigenes Werk: „Der ganze Film ist ein Prolog für die letzten zwei Minuten – als Stan endlich realisiert, wer er wirklich ist.“ (Cinema 02/2022, S. 73). Das mag narratologisch raffiniert sein, aber leider fühlt es sich auch genauso an.

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