An den ersten Film Dheepan, der ebenfalls am Wettbewerb teilnimmt, hatte ich natürlich große Erwartungen, da er vom Regisseur Jacques Audiard stammt. Er ist einer der berühmtesten französischen Filmemacher, z. B. von Der Geschmack von Rost und Knochen, den ich bereits lobend erwähnt habe.
Die Story ging auch gut los. Dheepan (Jesuthasan Antonythasan) flüchtet mit einer Frau, die nicht seine Frau ist (Kalieaswari Srinivasan) und einem Mädchen, das nicht seine Tochter ist (Claudine Vinasithamby) per Schiff aus Sri Lanka und sie gelangen schließlich mit neuer Identität nach Frankreich. So gut es geht versuchen sie sich in Sprache, Arbeitsleben und ihrer neuen Umgebung (ein von Immigranten bewohnter Häuserblock) zurechtzufinden. Die drei nähern sich nur langsam an, denn obwohl sie einander brauchen, sind sie dennoch Fremde.
Der Titel führt erst einmal in die Irre, da alle drei Darsteller in gleichem Maße die Geschichte vorantreiben. Der Film schaut einfühlsam auf eine von vielen Geschichten immigrierender Menschen, die sich eine sichere Zukunft in einem fremden Land erhoffen. Doch wie es zu erwarten war, bleibt es nicht lange friedlich im neuen Wohnblock. Am Ende wird es sogar richtig dramatisch. Was als behutsames Sozialdrama über interkulturellen Spannungen beginnt, mündet auf einmal in ein von jeglicher Realität entferntes Gemetzel und da fällt es schwierig, den Film überhaupt einzuordnen. Dheepan ist mit den ersten 80 Minuten ein würdiger Wettbewerbsteilnehmer, dem sein Ende jedoch mehr schadet als bereichert.
Verwirrt vom ersten Film ging ich ganz unvoreingenommen in einen weiteren „Un Certain Regard“-Beitrag. Der südkoreanische Film Madonna ist das dritte Werk von Shin Su-won.
In diesem beginnt die Krankenschwester Hye-rim einen neuen Job im VIP-Bereich eines Hospitals. Ihr erster Patient ist der herzkranke Besitzer des Krankenhauses, dessen Sohn ihn seit 10 Jahren verzweifelt am Leben hält und ein Herz nach dem anderen transplantieren lässt. Eine schwangere, hirntote Patientin ohne Hinweis auf Name oder Herkunft soll die neue Spenderin sein. Hye-rim macht sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und hofft dabei, den Vater des Kindes ausfindig zu machen. Dabei stößt die auf die von Verachtung und Missbrauch geprägte Geschichte der Patientin, die kurze Zeit vorher unter dem Namen „Madonna“ als Prostituierte arbeite.
Es ist erschütternd, wie viel Leid einer jungen Frau widerfahren kann und dass die Regisseurin auf jene leidvollen Szenen gnadenlos draufhält. Den gesamten Film über leidet man als Zuschauer unaufhörlich mit und wird in einen Sog aus Unterdrückung und Hilflosigkeit hineingezogen. Damit greift Shin Su-won bis heute bestehende soziale Missstände in Korea auf. Darüber hinaus überzeugt der Film mit starken Bildern, die man für Traumsequenzen hält, die sich jedoch um Ende hin als bittere Realität herausstellen.
Ich entschied, dass die beiden Filme für heute reichen sollten, da besonders der zweite noch lange nachwirkte. Ich schlendere lieber ein wenig durch das Village International. Hier haben alle Länder der Welt einen Pavillon und stellen ihre Kino(Kultur) und Institutionen vor.
Daraufhin beschäftigte ich mich ein wenig mit der im Festivalgebäude verstreckten (Film-)Geschichte. Die fünf großen Screening-Säle wurden allesamt nach berühmten Franzosen benannt.
Schreitet man über den roten Teppich, kommt man direkt in Grand Théâtre Lumiére, wo alle Premieren am Abend stattfanden und sich die Filmemacher, Darsteller und sonstige Stars und Sternchen einfanden. In diesem sah ich mir Irrational Man von Woody Allen an. Die Namensgeber Brüder Lumiére waren es, die den Kinematographen erfanden und 1895 in Paris die erste öffentliche Filmvorführung Frankreichs vor zahlendem Publikum aufführten. In der Rubrik „Cannes Classics“ wurden dieses Jahr u. a. Filme der Brüder zwischen 1895 und 1905 gezeigt.
Ebenso groß ist der Salle Debussy, in dem ich die meiste Zeit verbrachte. In diesem liefen die Wettbewerbs- und „Un Certain Regard“- Filme. Debussy war ein französischer Komponist des Impressionismus, dessen Musik auch oft als Filmmusik verwendet wurde. Nicht erst seit der Verfilmung von Stephenie Meyers Twilight gilt „Claire de Lune“ als Debussys schönstes Werk.
Im Salle Buñuel wurden hauptsächlich die Cannes Classics gezeigt. Luis Buñuel zählt zu den wichtigsten Filmregisseuren des 20. Jahrhunderts. Mit Salvador Dalí schuf er mit dem Klassiker Ein andalusischer Hund (1929) das bekannteste wohl Werk seiner Zeit und 1951 gewann er den Regiepreis der Filmfestspiele von Cannes für Die Vergessenen.
Im Salle Du Soixantiéme (was übersetzt so viel wie „Saal der 60er Jahre“ heißt) war ich ebenfalls sehr oft, denn dort wurden die Wettbewerbsfilme einen Tag nach der Premiere wiederholt und die Special Screenings am Abend gezeigt. Der Salle Bazin, benannt nach dem bedeutendsten französischen Filmkritiker André Bazin, dessen Hauptwerk Was ist Film? bekannt sein könnte, zeigt hauptsächlich „Un Certain Regard“-Filme.
Morgen ist schon der letzte Festivaltag für mich und dann heißt es gespannt sein, welcher Film die diesjährige Goldene Palme abräumen wird.