Die Saison der großen Preisverleihungen in den USA hat endlich begonnen, was für die deutsche Kinolandschaft alle Jahre wieder ein Segen ist. Schließlich laufen dann in unseren hiesigen Lichtspielhäusern von Januar bis März ebenjene Filme an, die die US-Amerikaner bereits im vergangenen Jahr ins Kino brachten, damit sie dort noch für die Mammutveranstaltungen wie Golden Globes und Academy Awards – kurz, Oscars – infrage kommen.
Dies gilt auch für Kenneth Lonergans neuesten Streifen Manchester by the Sea, sein überhaupt erst drittes Kinoprojekt, das postwendend fünf Golden-Globe-Nominierungen und einen Sieg einheimsten, während bei den Oscars sogar sechs Goldjungen winken. Das noch dazu in den wichtigsten Kategorien. Die Academy spricht dabei von den sogenannten „Big Five“ (Die Großen Fünf). „Wichtig“ meint hier wohl so viel wie, „unerlässlich für ein gelungenes Werk“.
Neben der Kategorie Bester Film ist Manchester by the Sea auch für das Beste Drehbuch, die Beste Regie und mit Casey Affleck auch für den Besten Hauptdarsteller nominiert. Um die Big Five komplett zu machen, fehlt nur: Beste Hauptdarstellerin. Da es die in Lonergans Drama allerdings nicht gibt, darf man durchaus davon sprechen, dass Manchester By the Sea quasi die Big Five ergattern könnte. Dazu bekommen noch Michelle Williams und Lucas Hedges die Chance, als Beste Nebendarstellerin und Bester Nebendarsteller zu siegen.
Doch was steckt hinter all den Ruhmesversprechen? Weiß der neue Film nicht nur die professionelle Filmelite Hollywoods, sondern auch den Laienzuschauer überzeugen?
Hier ein Plädoyer für den ersten großen emotionalen Höhepunkt des noch so jungen Kinojahres:
Lee Chandler (Casey Affleck) ist kein Mann des Smalltalks. Nicht, dass er es ungern tut. Nein, er tut es einfach überhaupt nicht, sondern wirkt immerfort lethargisch und wortkarg. Lee ist ein Eigenbrötler, ohne Freunde, immun gegenüber den Flirtversuchen in der Kneipe, einfach nicht interessiert an alledem. Stattdessen lebt er zurückgezogen in seiner Kellerbude, die mehr mit einer Gefängniszelle als mit einer Wohnung gemein hat.
Doch wenn es um seine Familie geht, ist er ein anderer Mensch. Zwar immer noch schwermütig, doch voller Bereitschaft. Als sein Bruder Joe (Kyle Chandler) plötzlich im Sterben liegt, lässt Lee seinen Hausmeisterjob links liegen und sitzt im nächsten Moment im Auto, auf dem Weg in seine alte Heimat Manchester. Dort will er für seinen sechzehnjährigen Neffen Patrick (Lucas Hedges) sorgen. Doch was löst es in ihm aus, als er nach einer langen Zeit wieder in jene Stadt zurückkehrt, in der ihn jeder kennt? In der seine Vergangenheit für jeden ein offenes Buch ist?
Eines sollte jeder Zuschauer vorab wissen, ehe er sich auf die Reise durch Lee Chandler Leben einlässt: Kenneth Lonergans Drehbuch kommt bei Zeiten einem saftigen Schlag in die Magenkuhle gleich, bei dem keineswegs der erste Schmerz verstört, sondern das danach noch anhaltende Gefühl des Unwohlseins. Gewiss warten auch schöne Momente und dazu Episoden aus dem Alltag des Teenagers Patrick, die sogar hier und da ein echtes Lachen hervorkitzeln. Dennoch bleibt das Filmganze ein Drama und zwar aus der Richtung Tragödie. Wenn sich nach etwa einem Drittel des Filmes die Büchse der Pandora öffnet, möchte man dem Halblicht des Kinosaals am liebsten entfliehen und nichts mehr davon an sich heranlassen.
Entscheidet man sich an diesem neuralgischen Punkt jedoch zu bleiben, dann sieht man den Rest eines feinfühligen Meisterwerkes. Denn selten kam ein Drama so gut ohne jedweden Kitsch oder konstruierte Sinnzusammenhänge aus wie Manchester by the Sea. Der Film bleibt sich vom Anfang an bis zum Abspann treu und zeichnet das realistische Abbild einer traurigen Geschichte.
Das Drehbuch besteht dabei durchweg aus Dialogen, in die sich jeder niedrigschwellig hineinversetzen kann, weil sie so echt geschrieben und mit einem solchen Understatement gespielt sind. Casey Affleck – der den Oscar zweifellos verdient hätte –, Michelle Williams und Lucas Hedges greifen zu keiner Zeit auf das Repertoire eines Schmachtstreifens zurück. Sie brüllen nicht wild umher, noch schmeißen sie Geschirr zu Boden, um einen herzzerreißenden Gefühlsschwall zu unterstreichen. Stattdessen verkörpert vor allem Affleck das stille Trostlose par excellence. Genau das, was keine Worte kennt. Seine Körperhaltung ist bucklig und schlaff, seine Augen nie weit offen, die Stimme dünn, der Blick so oft gen Bogen gewandt. Wenn er sich dann einmal zu einem Lächeln durchringt, scheint dies bloß ein schwacher Abglanz von dem zu sein, was man eigentlich Lächeln nennt.
Die Figuren sprechen zumeist so, wie man es selbst wohl in ähnlichen Situationen tun würde. So manches Mal scheint das nahezu auf absurde Weise profan, als würde es nicht in einen durchgeplanten Film passen, zum Beispiel dann, wenn Lee und Patrick sich am Steuer streiten, warum Lees alter Knochen von einem Handy keine GPS-Funktion hat.
Durch das erzählerische Mittel der Rückblenden schafft es Manchester by the Sea außerdem ohne lebensferne und überladene Dialoge auszukommen, die dem Zuschauer auf platte Weise den Grundkonflikt schildern wollen. Frei nach dem wichtigsten filmischen Motto „Show, don’t tell“ (Zeige es, anstatt es zu sagen) ergibt sich aus mehreren Flashbacks ein Mosaik von Lees Vergangenheit. Plötzlich weiß man, was die Leute in Manchester meinen, wenn sie hinter vorgehaltener Hand flüstern: „Das ist doch Lee Chandler, oder nicht?“. Die Charaktere reden die Verbindungen nicht herbei, sondern der Zuschauer darf sie selbst ziehen.
Dabei sind die Rückblenden hier und da mehr mit der Gegenwart verflochten, als man es aus anderen Filmen gewohnt ist. Einmal wird sogar im 10-Sekunden-Takt zwischen beiden Ebenen hin- und hergewechselt, was der ganzen Sequenz eine dritte Ebene verleiht. Es stellt sich der Eindruck ein, als würde die Rückblende nicht nur Information für den Zuschauer bereithalten, sondern auch gleichzeitig die Gedanken in Lees Kopf zu visualisieren.
Während dieser Entdeckungsfahrt durch das verschneite Manchester der letzten 15 Jahre bleibt auch das Leben des pubertierendem Patrick nicht unentdeckt. Dabei wird u.a. das angespannte Verhältnis mit seiner Mutter bearbeitet, welches jedoch für etwa eine Viertelstunde vom Thema des Films wegführt. Dadurch, dass die davon betroffenen Szenen keine Erwähnung mehr finden, wirken sie leider leicht deplatziert.
Ansonsten weiß der Plot aber, was er erzählen will und seine größte Stärke dabei ist, dass er einem zu keinem Zeitpunkt, eine halbgare Sinndeutung der Tragödien im Films vorsetzt. Deswegen bleibt am Ende des Films Enttäuschung zurück. Jedoch eine positive. Der Sog, den Lee Chandler, sein Neffe und ihre Vergangenheit ausüben, mündet im schwarzweiß des Abspanns. Dabei will man doch, dass mit Lee alles wieder ins Lot kommt. Man will, dass er in seiner neuen Aufgabe als Ersatzvater glücklich wird, dass er bewältigen kann, was hinter ihm liegt. Aber das wird nie geschehen, denn so ist das Leben nicht. Es gibt Szenarien, die einfach keinen Sinn kennen. So steht zum Schluss weder eine überbordende Sinndeutung nach der Prämisse „Es wir schon wieder, wenn man sich nur anstrengt“, noch eine schmalzig aufgearbeitete Vergangenheit in der Gegenwart. Nein, am Ende bleibt nur eines zurück. Eine wortlose Umarmung. Die nackte Solidarität mit den Trostlosen.
So schriebt schon Henning Luther (1947-1991) im Aufsatz Die Lügen der Tröster:
Das ist der Trost der Seelsorge: sich dem Elend vorbehaltlos, ohne Einschränkung auszusetzen.
Genau das tut Kenneth Lonergans Film mit eindrücklicher Konsequenz. Dabei entfaltet sich eine Geschichte, die um die echte Tragik des Lebens weiß und gepaart mit der rührenden Beziehung zwischen einem Onkel und seinem Neffen kaum besser hätte auf die Leinwand gebracht werden können.
Regie: Kenneth Lonergan
Drehbuch: Kenneth Lonergan
Musik: Lesley Barber
Darsteller: Casey Affleck, Michelle Williams, Kyle Chandler, Gretchen Mol, Lucas Hedges
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Bildrechte: Universal Pictures