High-Rise (2015) | Filmkritik

High-Rise (2015)

Es gibt bereits Stimmen, die behaupten, die Neurotiker protestierten – wie hilflos auch immer – zurecht gegen unmenschlich gewordene gesellschaftliche Zustände und die eigentlichen Sorgenkinder seien auch für den Psychotherapeuten die sogenannten ‚Normalen‘, die vorzüglich Angepassten, so daß in einer ‚verrückten‘ Gesellschaft die Verrückten eigentlich als die Normalen bezeichnet werden müssen. – † Joachim Scharfenberg – Theologe, Pastoralpsychologe und Psychoanalytiker

Es dauert nicht lang, bis wir Zuschauer wissen, auf was für eine Reise wir uns mit High-Rise begeben. Ehrlich gesagt ist es mit dem Beginn der ersten Szene offenkundig. Wir sehen einen Mann – der sich kurz darauf als unser Protagonist Dr. Robert Laing (Tom Hiddleston) vorstellen wird – der seinen Anzug aus Trotz zu tragen scheint. Denn nichts an seiner Umgebung hat mehr die elegante Attitüde, die Krawatte und Seide vermitteln wollen. Sein weißes Hemd ist blutbespritzt, seine Zähne gelb verfault, sein Bart gleicht dem eines Eremiten aus den weiten Wäldern einer vergessenen Zeit. Er wühlt im Müll, sucht verzweifelt nach Essen, bis ihm doch nichts bleibt als das Bein eines ausgehungerten Hundes.

Das alles geschieht mitten in der Zivilisation. Uns erwartet keine Zombieapokalypse, keine Episode von The Walking Dead. Nein. Vielmehr steht Laing in den Überresten jenes Hochhauses, in das er drei Monate zuvor eingezogen war.

Und genau an diesem Punkt, als alles noch normal erschien, werden wir Zuschauer nun durch die Zeit zurückgeschickt.

Laing trägt denselben Anzug, doch sieht geleckt aus. Diesmal wirkt er wie frisch aus der Reinigung. Er ist einer dieser Männer, die mit Anzug schlafen. Doch schon bald wissen wir, es ist viel pathologischer als das. Er trägt seinen Anzug immer. Nie etwas Anderes den gesamten Film über. Er bleibt vorhersehbar. Ja, er will es sogar bleiben. Will nur das preisgeben, wonach ihm ist. Gleich in einem seiner ersten Gespräche mit einer neuen Nachbarin rutscht ihm jedoch beiläufig zwischen zwei Whiskey und einem Joint etwas heraus, das viel über ihn preisgibt: „Ich hatte hier eher eine gewisse Anonymität erwartet“, sagt er.

Was er dort auf der ersten Party im Hochhaus noch nicht ahnt, ist etwas, das wir schon wissen. Denn wir können durch die erste Szene in die Zukunft sehen. Eine Zukunft in der Anonymität wohl schon längst vergessen ist. Stattdessen wird das nackte Überleben alles sein, was Laing beschäftigt, wenn der gefährliche Cocktail des überdimensionalen Hochhauses, in dem alle sozialen Schichten von unten nach oben gestaffelt wohnen, umkippt.

James G. Ballards Romanvorlage galt bereits seit ihrem Erscheinen 1975 als „unverfilmbar“ und so dauerte es tatsächlich mehr als 40 Jahre, bis Ben Wheatley (Kill List) wagte, auf dem Regiestuhl Platz zu nehmen und gemeinsam mit Amy Jump ein Drehbuch zu entwerfen.

Gewiss braucht der Zuschauer nicht lang, um zu verstehen, weshalb das erst 2016 geschah, obwohl die Filmrechte doch bereits Ende der 70er-Jahre verkauft waren. Dieser Film ist nichts für Jedermann und das tritt bereits nach 20 Minuten unübersehbar zutage.

Da begegnen Traumsequenzen, Bilder und Zitate, die nur so vor Doppeldeutigkeit strotzen. Architektonische Abrisse des Hochhauses wirken wie das Diagramm eines psychischen Vorgangs. Auf dem Dach findet sich Protagonist Laing im Garten des Architekten wieder, ein scheinbar modernes Abbild der Unberührtheit im Garten Eden, bis plötzlich ein schwarzes Schaf blökt. In den unteren Geschossen zieren Poster von Che Guevara die verwahrlosten Wände. Dort wird der investigative Journalismus in Form eines Dokumentarfilmers zur Waffe des kleinen Mannes. Eine Aussage wie: „Es braucht schon eine gewisse Entschlossenheit um gegen den Strom zu rudern“, wird in Bezug auf den Fitnessraum im 30. Stock ausgesprochen und meint doch so viel mehr.

Zu alledem gesellt sich dann noch Clint Mansells ausgezeichnete Musik, die in bester Shining-Manier eine unorthodoxe Strategie verfolgt, um Spannung zu generieren. Stets kontrapunktiert sie das Geschehen. Da wo die Töne extrem unangenehm werden, sehen wir bloß einen Titel, der besagt: „3 Monate zuvor“. Wenn das Bild die sexuelle Enthemmtheit zeigt, untermalt Mansell das mit geordneter Klassik, die dem 18. Jahrhundert zu entspringen scheint.

Gerade wegen dieser Symbolkraft, die der Mikrokosmos des Hochhauses bis in die Poren ausstrahlt, lohnt es sich High-Rise mehrmals zu schauen. Außerdem entwickelt das ungewöhnliche Gebäude, das einen Supermarkt, ein Bordell, ein Schwimmbad und ein Fitnessstudio in sich beherbergt, einen extremen Sog durch seine detailverliebten Kulissen und seinen 70er-Jahre-Flair.

Auch Luke Evans als hitzköpfiger Anführer der Revolution gegen die Eliten macht eine überzeugte Figur und vor allem Tom Hiddlestons Performance bleibt im Gedächtnis, vielleicht gerade deswegen, weil sie so unauffällig ist. Er ist der perfekte Anker für uns Zuschauer, denn er zieht unbedarft in das Hochhaus ein und kommt nach und nach mit allen Schichten in Kontakt. Er stellt unsere Fragen. Seine Mimik und Gestik gehen dabei den Verfallsweg seines Anzuges mit. Er wirkt stets attraktiv, elegant und wie die Verkörperung eines Gentlemans, doch letzten Endes wird auch er brechen, auch er wird irre werden an den sozialen Unterschieden im Hochhaus. Auch er wird seinen Trieben folgen, wo sich ihm die Gelegenheit bietet.

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Dieser doppelte Boden hinter allem, was wir als Zuschauer sehen, mag demjenigen, der Sigmund Freuds Seelenmodell nicht kennt bei Zeiten kryptisch vorkommen (Kurzform des Modells: Das ICH ist einem Kampf zwischen ÜBER-ICH und ES ausgesetzt. Das ES beinhaltet vor allem dem Sexual- und Zerstörungstrieb – als Symbole des Chaos, das ÜBER-ICH ist geprägt durch anerzogene Vorstellungen, die Ordnung bringen – Moral, Religion etc.). Tatsächlich ist aber vieles nicht wirklich kryptisch. Das allein ist natürlich noch nichts Schlechtes.

Allerdings misslingt dem Film auf ganzer Linie, das Symbolische und das Konkrete zusammenzudenken. Die vordergründige Handlung im Hochhaus lässt sich von der Metaebene nur bedingt befruchten. Zu Beginn ist es noch interessant die Doppeldeutigkeit zu dechiffrieren und zu sinnieren, doch spätestens nach der ersten Stunde ist viel zu offensichtlich, wie alles sein Ende nehmen wird. Und das ist fast schon ironisch. Denn Ben Wheatley will mit seinem Werk das Tier im Menschen aufdecken, also das Unberechenbare und schließlich mündet sein Streifen in einem vorhersehbares Finale, das sich mindestens 20 Minuten zu lange anbahnt.

Weder sind die Bilder vom Chaos so verstörend, dass man auf der Kante seines Sessels sitzt, noch dürfen wir besondere Wendungen erleben. Darüber hinaus gelingt es den Figuren und dem Drehbuch nicht, den Bruch, der zur Revolution der unteren Schichten führt, wirklich plausibel zu machen. Auf der Metaebene ist er das vielleicht, aber nicht auf der des Plots. Ebenso wenig wird verständlich, weshalb die Bewohner des Hochhauses nicht daraus fliehen. Weshalb bleiben sie in einer lebensbedrohlichen Lage? Viele Kritiker merkten übrigens an, dass das Buch eine logische Begründung dafür liefere, die im Film verschwiegen wird.

Somit ist aus High-Rise zweifellos eine interessante und brisante Fiktion der 70er-Jahre geworden, die über weite Strecken eher wie eine futurische Dystopie anmutet. Seine Arthouse-Atmosphäre regt zum Diskutieren an, über die Entmenschlichung im Kapitalismus und den Klassenkampf, aber auch über das Tier in jedem. Doch auf filmischer Ebene passt das große Ganze nicht zusammen. Am Ende steht eine schwarzhumorige Gesellschaftssatire, der leider ein äußerst schwacher Spannungsbogen zum Verhängnis wird. Potential verschenkt.

Regie: Ben Wheatley
Drehbuch: Amy Jump
Musik: Clint Mansell
Darsteller: Tom Hiddleston, Jeremy Irons, Sienna Miller, Luke Evans, Elisabeth Moss

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