Offengestanden ist es inzwischen nicht mehr einfach, die X-Men-Chronologie zu verstehen, wenn man dem Universum fremd ist. X-Men 1 bis 3 (2000-2006) folgten direkt aufeinander, während X-Men: Erste Entscheidung (2011) in die Vergangenheit sprang und den Anfang von allem erzählte. Mit X-Men: Zukunft ist Vergangenheit (2014) erzählte Bryan Singer schließlich eine Geschichte, in der die Helden aus dem Jahr 2023 ins Jahr 1973 reisten, um die Welt zu retten.
Die neueste Fortsetzung spielt nun in den 80er-Jahren. Diesmal steht das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel, weil sich der Superbösewicht Apocalypse (Oscar Isaac) plötzlich aus dem Staub der Jahrtausende erhebt. Als erster Mutant der Zeitrechnung gelang es ihm, über Äonen die Fähigkeiten vieler zu erlernen. Nur noch ein Schritt trennt ihn nun davon, ein wahrhaftiger Gott zu werden.
Jeder Versuch Apocalypse aufzuhalten scheint aussichtslos, doch Charles Xavier (James McAvoy) hat seinen unbändigen Glauben an das Gute noch nicht verloren. So versucht er mithilfe von Mystique (Jennifer Lawrence) die X-Men zusammenhalten, während die neue Bedrohung alle Bande der Freundschaft auf eine harte Probe stellt. Rasch wird auch Erik Lehnsherr alias Magneto (Michael Fassbender) klar, dass er sich nicht länger in der polnischen Provinz verstecken kann. Als es dort zu einer unheimlichen Begegnung kommt, dämmert ihm allmählich, dass er eine wichtige Rolle spielen wird, wenn das Schicksal der Zivilisation auf dem Prüfstand steht.
Obwohl bereits diese Einführung so einige Wendungen verspricht, ist damit nur ein Bruchteil der Probleme aufgezählt, die sich Bryan Singers vielschichtiger neuer Streifen der Superhelden-Saga vornimmt. Mit Jean Grey (Sophie Turner), Scott Summers (Tye Sheridan) und Nightcrawler (Kodi Smit-McPhee) taucht der Zuschauer nicht nur in die Vorgeschichte bereits bekannter Helden ein, sondern lernt auch die drei Hauptcharaktere Mystique, Professor X und Magneto näher kennen.
Von Apocalypse und seinen Lakaien ganz zu schweigen. Wie so oft wartet dieses Blockbuster-Spektakel mit unzähligen Charakteren auf, die sich im ersten Teil des Films wie Puzzlestücke hervorragend zusammenfügen. Während man erwarten würde, dass eine lange Einführung der Figuren den Start langweilig macht, gelingt dem Filmteam von X-Men: Apocalypse eine überraschend spannende erste halbe Stunde.
Das liegt vor allem an dem imposanten Portrait des Halbgottes Apocalypse, das vom alten Ägypten bis in die Gegenwart reicht und einer emotional packenden Exposition der Helden. Gerade die Beziehung zwischen Professor X und Magneto kommt in einer Szene eindrucksvoll zum Ausdruck, in der Charles jäh in Tränen ausbricht, als er in den Gedanken seines alten Weggefährten tiefen Schmerz spürt.
Wie schon in X-Men: Erste Entscheidung darf der Zuschauer mit Freude beobachten, wie eine junge Mutanten-Riege die eigenen Fähigkeiten entdeckt. Damals waren es Magneto, Mystique, Beast (Nicholas Hoult) und Charles. Nun sind es deren Schüler. Somit könnte der neueste Film genauso gut als X-Men: The Next Generation durchgehen.
Unter diesem Stern steht auch die Action. Dank der unterschiedlichsten Superheldenfähigkeiten ist sie so abwechslungsreich und rasant inszeniert, dass man aus dem Staunen kaum herauskommt. An dieser Stelle geht das neueste X-Men-Abenteuer jedoch einen Schritt über andere Genrevertreter hinaus. Die Bildsprache der Action schlägt beinahe poetische Pfade ein, wenn Apocalypse sich mit seinen Rivalen eine mentale Schlacht liefert. Außerdem scheint im X-Men-Universum nicht jeder Held vor der Gefahr des Todes gefeit zu sein, wodurch einem die Spannung nicht ganz so relativ vorkommt wie bei anderen Marvel-Episoden.
Mir persönlich gefällt der ernstere Ton des Franchises um Professor X und seine Schüler ohnehin besser als die Avengers-Reihe, die Thrill nicht selten mit einem Dutzend cooler Sprüche gleich wieder untergräbt. Umso überraschter war ich von der Portion Humor in X-Men: Apocalypse, die sich erfreulicherweise nahtlos ins große Ganze einpasst. Die Macher gingen sogar ein echtes Risiko damit ein, den kessen Rebellenwitz des jungen Quicksilver (Evan Peters) in eine dramatische Szene einzubauen. Das Endergebnis kann sich wirklich sehen lassen.
Allerdings verbergen sich hinter all diesen positiven Punkten in ersten Linie bloß die Zutaten für beste Popcornunterhaltung. Dabei hatte gerade X-Men: Erste Entscheidung bewiesen, wie viel mehr in der Superheldentruppe mit „Mutationshintergrund“ steckt. Nämlich das Potential einer hochinteressanten Charakterstudie, die den Zuschauer zu berühren weiß.
Beim diesjähriger Streifen gilt jedoch leider: Vielschichtig bedeutet nicht immer gleich vielversprechend! Alles beginnt mit einer Reihe interessanter Versatzstücke philosophischer, politischer und zwischenmenschlicher Natur. Doch alles endet mit einem ausufernden Actionfinale, das zu wenig Substanz hat, um nicht vorhersehbar zu wirken. Zunächst verspricht der Film Themen wie die Sündhaftigkeit des Menschen und Verführung durch Religion zu behandeln. Aber die Erzählung lässt jene Andeutungen links liegen und fasst dann doch einen einfältigen Entschluss. Frei nach dem Motto: „Ach komm, zerstören wir eben eine Stadt in einer hübschen Materialschlacht und vergessen jedwede Tiefe. Finden eh alle geil.“
Leider unterläuft X-Men: Apocalypse in dieser Hinsicht der gleiche Fehler wie dem ziemlich misslungenem Batman v Superman: Dawn of Justice. Zu früh machen die Charaktere dem Bombast Platz, sodass sie flacher bleiben, als es sein müsste. Der Schurke Apocalypse selbst ist das beste Beispiel für dieses Dilemma. Wie schon Ultron im zweiten Avengers-Film kommt er überaus bedrohlich daher, doch sein Motiv wird kaum bearbeitet und ist daher bloß ein Produkt von der Stange. Welt beherrschen! Warum? Wegen der Gier nach Macht!
Bryan Singers viertes Werk aus der Comicwelt bleibt also hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es ist ein durchaus unterhaltsames Paket, das mit seiner Hochglanz-Action und einem sympathischen Ensemble beweist, welch fantastische Möglichkeiten das Kino heutzutage besitzt. Jedoch wird sich so mancher Filmliebhaber im Dschungel der Superheldenfilme nach Zeiten zurücksehnen, in denen die visuellen Effekte limitierter waren und stattdessen clevere Ideen umso grenzenloser. Somit bereitet X-Men: Apocalypse viel Spaß auf der großen Leinwand, ist gleichzeitig jedoch von großartigen Genrevertretern wie The Dark Knight und X-Men: Erste Entscheidung weit entfernt.
Regie: Bryan Singer
Drehbuch: Simon Kinberg
Musik: John Ottman
Darsteller: James McAvoy, Michael Fassbender, Jennifer Lawrence, Oscar Isaac, Nicholas Hoult, Rose Byrne, Tye Sheridan, Sophie Turner, Olivia Munn, Lucas Till