Wonach klingt: 167 Minuten, 16 Schauspieler, eine Hütte und abertausende Lügen?
Nach einem Kammerspiel der anderen Art, wie nur Quentin Tarantino es inszenieren kann. Nachdem der erbarmungslose Winter Wyomings eine Bande von acht Fremden in Minnies Miederwarenladen gespült hat, wird ihnen rasch klar, dass sie nicht nur abgestandener Kaffee und feuriger Eintopf am Leben erhalten wird. Der Bürgerkrieg mag zwar vorbei sein, doch im Wilden Westen ist daher noch lange nicht jeder Streuner zu einem Engel geworden. So müssen die Acht einander kennenlernen, um die aufgeheizte Stimmung wieder abzukühlen.
Die Vorstellungsrunde verläuft dabei ganz sicher nicht nach der feinen englischen Art, sondern immer mit dem Colt im Anschlag. Im Sessel dämmert der greise General Sandy Smithers (Bruce Dern) vor sich hin, während „der Cowboy“ Joe Gage (Michael Madsen) schweigsam in der Ecke hockt. Oswaldo Mobray (Tim Roth) scheint noch der höflichste unter den rauen Gesellen zu sein, doch bei den beiden Kopfgeldjägern Major Marquis Warren (Samuel L. Jackson) und John Ruth (Kurt Russel) kommt er mit dieser Masche nicht weit. Die zwei haben nämlich bloß ein Ziel: Die verurteilte Mörderin Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) vor den Henker zerren, um vom designierten Sheriff Chris Mannix (Walton Goggins) einen Sack voll Dollar zu kassieren.
Was soll nur aus einem solch ungleichen Ensemble werden? Das kann wohl kaum ein Zweiter so gut beschreiben wie Demian Bichir, der als seltsamer Mexikaner Bob den Achten der „Hateful 8“ mimt:
Es ist eine große, wunderbare Begegnung in der Hölle. Jedenfalls, wenn die Hölle eine Hütte inmitten eines Schneesturms ist, wo nichts so ist, wie es scheint.
Na dann. Die Schonzeit ist vorbei. Vertraue niemandem. Hasse jeden!
Der eine oder andere wird sich vielleicht noch daran erinnern, dass Auszüge aus dem Drehbuch von The Hateful Eight (Deutscher Titel: The Hateful 8) bereits an die Öffentlichkeit gerieten, ehe der Film überhaupt in den Startlöchern stand. Daraufhin hatte Regisseur und Autor Quentin Tarantino abgelehnt, das Projekt überhaupt noch zu realisieren. Das stimmte natürlich nicht ganz! Im April 2014 gab er eine Benefiz-Veranstaltung, bei der er mit seinen Lieblingsschauspielern das Drehbuch verlas. Als die erste Zeile ertönte, konnte noch keiner der Anwesenden ahnen, dass sie acht Monate später dieselbe Zeile abermals vernehmen würden und zwar vor einer Kamera.
Zum Glück ist es so gekommen! Denn The Hateful Eight ist nicht weniger als ein neuer Geniestreich. Millionen Zuschauer wissen, dass sie beinahe jedes Mal filmische Exzellenz erwartet, wenn das Qualitätssiegel Tarantino im Vorspann auftaucht. Auch dieses Mal werden sie nicht enttäuscht. Ennio Morricones Westernsoundtrack bringt einen schon in Stimmung, wenn die Kamera noch nichts weiter eingefangen hat als ein verschneites Kreuz, neben dem die Namen der beteiligten Schauspieler aufflackern. Die Spannung bleibt von dort an bestehen, schließlich sind Tarantinos Plots immer originell, entstammen keiner Vorlage oder begründen ein Franchise, das seine Helden lebend braucht. Kein Charakter ist sicher!
Den Rest zum Nervenkitzel trägt die Atmosphäre bei und ist neben den Figuren sicher das Beste an The Hateful Eight. Sieht man genau hin, avanciert Minnies Miederwarenladen im Laufe der Erzählung sogar zu einer ganz eigenen Figur. Selbst nach über zwei Stunden fallen einem noch neue Details und Schrulligkeiten an der Hütte auf, die durch das Breitbildformat 70mm den Eindruck erweckt, als säße der Zuschauer selbst darin.
Die menschlichen Figuren – wie bei allen Tarantino-Filmen – sind die fleischgewordenen Coolness. Noch dazu sind sie so herrlich unterschiedlich und voll Wiedererkennungswert, dass jede Dialogzeile Spaß macht. Untersucht man die Blockbuster-Historie der letzten Jahre, wird man nicht umhin kommen, festzustellen, dass viele Millionenproduktionen nicht einmal eine Kultfigur erschaffen haben. Tarantino gelingen gleich acht auf einen Streich. Ich werde mich noch in Jahren an den Kopfgeldjäger, den Henker, den Sheriff, den General, den kleinen Mann, den Cowboy und den Mexikaner erinnern.
Die Schauspieler holen dabei alles aus sich heraus, was man sich nur wünschen kann. Am meisten überzeugen Samuel L. Jackson, Jennifer Jason Leigh und Walton Goggins. Sie verschmelzen mit ihren Figuren und sind der Grund dafür, warum ich mir den Film sofort noch einmal ansehen würde. Natürlich nur, wenn ich an die drei Stunden Zeit hätte.
Damit kommen wir zum vielleicht einzigen wirklichen Schwachpunkt von The Hateful Eight. Die meisten Tarantino-Filme sind lang. Sein siebter Streifen Django Unchained konnte das Tempo durch Action hochhalten, Pulp Fiction durch den Episodencharakter, doch The Hateful Eight ist im wahrsten Sinne des Wortes in einer Hütte gefangen. Ein großes Rätsel, von dem jeder Charakter ein Stück mit sich herumträgt, sorgt zwar dafür, dass einem nicht langweilig wird, doch über so manche Längen kann auch das nicht hinwegtäuschen. An einem gewissen Punkt ist der Zuschauer nämlich gesättigt mit verwegenen Sprüchen und blutigem Exzess. Dann läuft der Film Gefahr in seinem Stil redundant zu werden.
Die künstlerische Ambition gleicht diese kleine Schwäche jedoch wieder aus. Das Kammerspielfeeling wird auf so vortreffliche Art und Weise aufgebaut, dass die Szenerie nicht selten wie eine Theatervorführung wirkt, mit einer Kulisse und Darstellern zum Anfassen. Dass währenddessen zwischen den Zeilen das Filmemachen selbst thematisiert wird, ist ein weiterer Leckerbissen für Cineasten, der eine zweite Sichtung lohnenswert macht.
Aufgrund all dieses Lobs ist es mehr als verdient, dass The Hateful Eight mit drei Oscar-Nominierungen ins Rennen um den Goldjungen 2016 geht. Jennifer Jason Leigh, die unter den besten Nebendarstellerinnen gelistet wird, aber auch Walton Goggins werden wir demnächst hoffentlich häufiger zu Gesicht bekommen. Auch im 8. Film von Tarantino ist dem Zuschauer allerdings unweigerlich bewusst, wer der eigentliche Star des Ganzen ist? Natürlich der Meister himself!
Vielleicht gehört er zu den wenigen Regisseuren auf diesem Planeten, den man nicht schlecht finden kann. Zumindest nicht, wenn einem die Welt des Films am Herzen liegt. Ganz sicher gibt es eine Horde Leute, die seinen Stil langatmig finden. Vielleicht sogar nervig oder – in seiner Verwendung von Blutkapseln – sogar kindisch.
Aber eines kann niemand verkennen: Ohne Tarantino würde dem Kino etwas schmerzlich fehlen. Wer auf dieser Welt kommt auf die Idee ein Filmformat wie 70mm aus den Tiefen alter Archive herauszukramen, obwohl es seit 1966 nicht mehr zum Einsatz kam? Nur Tarantino! Wer zieht mit seinem Film durch die Staaten und trägt eine Ouvertüre der Filmmusik im Petto, um die bereits vergessenen Roadshows aus alten Tagen wiederzubeleben? Nur Tarantino! Wer kühlt das wohlige Filmstudio unter den Gefrierpunkt, damit die Atemwölkchen echt sind und die Schauspieler wirklich frieren? Nur Tarantino! Er gehört zu einer aussterbenden Art, die noch Filme auf die Leinwand bringt, ohne an Dollars zu denken. Stattdessen beschenkt er uns regelmäßig mit Drehbüchern aus Gold, bleibt bis in die Zehenspitzen originell, innovativ und kreativ und verhalf zahllosen Akteure vor und hinter der Kamera zu dem Ruhm, den sie verdienen.
Diese Dutzend Gründe, um vor Quentin Tarantino den Hut zu ziehen – was angesichts seines neustes Werkes wohl mehr als nur ein schlechter Wortwitz ist – sind in jeder Sekunde von The Hateful Eight präsent. Sie allein tragen bereits dazu bei, dass der Streifen zu einem Fest für jeden Filmliebhaber wird. Außerdem taucht mit dem Rätselraten ein Motiv im „Tarantinoversum“ auf, das der Großmeister bisher nur selten verwendete. Wen wundert es überhaupt noch, dass er sich darauf fast genauso gut versteht wie auf den Rest seiner Kunst? Die Geschichte schaut sich wie eine nichtjugendfreie Partie „Cluedo“.
Der coolste Film 2016 ist der Winterwestern voller Bärte und Hüte ohnehin schon, obwohl draußen erst der kalte Januar herrscht. Jetzt schon Kultkino!
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