Victoria (2015) | Filmkritik

Victoria

Die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) ist neu in Berlin und spricht so gut wie kein Deutsch. Nach einer durchzechten Partynacht in einem Elektro-Club trifft sie auf eine vierköpfige Berliner Männerclique, die sich als Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) vorstellen.

Victoria begleitet die Jungs spontan auf ein Bier und Sonnenaufgang gucken auf ein Dach in der Nähe. Als sich zwischen ihr und Sonne gegenseitiges Interesse entwickelt, nehmen die Ereignisse dieser Nacht eine unerwartete Wendung. Boxer schuldet dem Gangster Andi (André M. Hennicke) einen Gefallen, weil dieser im Gefängnis für seine Sicherheit sorgte.

Ein Banküberfall soll 50.000 Euro einbringen und in den nächsten Minuten durchgezogen werden. Weil Fuß zu betrunken ist, soll Victoria als Fahrerin des geklauten Fluchtwagens einspringen. Ehe sie so recht versteht was eigentlich geschieht, findet sie sich nach der anfänglichen Euphorie als Komplizin einer folgenschweren Straftat wieder und eine turbulente Kettenreaktion nimmt ihren Lauf.

© Senator Film

Dröhnende Beats und Stroboskopgeflatter leiten die unglaubliche Geschichte eines frühen Berliner Morgens ein, an dem vier Männer und eine junge Frau sich zufällig am Eingang eines Technoklubs begegnen und deren weiterer Verlauf den Zuschauer für 140 Minuten in den Bann zieht. Seite an Seite mit den Figuren erlebt das Publikum in Echtzeit die nervenaufreibenden Ereignisse rund um einen folgenschweren Banküberfall.

Ein Film ohne jeglichen Schnitt

Das Besondere: Victoria wurde in einer einzigen Kameraeinstellung gedreht und verzichtet komplett auf Schnitte. Das Team hat insgesamt zwei Monate am Film geprobt, bevor die finalen drei Plansequenzen ohne Unterbrechung gedreht wurden. Bis zum Drehschluss hat es kein Dialogbuch, sondern nur ein zwölfseitiges Drehbuch gegeben. Die Dialoge sind aus der Situation heraus improvisiert.

Kameramann Sturla Brandth Grøvlen folgte den Darstellern permanent mit seiner Canon C300 und liefert ein kameratechnisches Glanzwerk, das anders als Alejandro Gonzáles Inarritus Birdman (2014) auch ohne Computertricks auskommt. Hier sind weder Lichtverhältnisse noch Positionen der Darsteller perfekt, aber genau das verleiht dem Film die Intensität und Dynamik, die ihn ausmacht.

© Senator Film

Die finale Fassung wurde am 27. April 2014 zwischen 4:30 und 7:00 Uhr in Berlin-Kreuzberg und Berlin-Mitte in insgesamt 22 Locations gedreht. Dem Regisseur Sebastian Schipper standen sechs Regieassistenten, drei Teams für den Ton und 150 Statisten zur Verfügung. In Victoria verbinden sich (produktions-)technische Raffinesse und großartige Schauspielerei.

Der Zuschauer ist immer direkt am Geschehen

Die beiden Hauptdarsteller tragen den Film quasi im Alleingang. Laia Costa, die bisher hauptsächlich im spanischen TV zu sehen war, besitzt als Victoria eine bewundernswerte Leinwandpräsenz und dürfte sich mit dieser Rolle internationale Aufmerksamkeit erworben haben. Sie vereint die richtige Mischung aus Unscheinbarkeit, Neugier und Verrücktheit, so dass ihr Handeln zwar überrascht, aber nachvollziehbar ist. Bis auf wenige Ausnahmen bleibt die Kamera an ihren Fersen, so ist sie Trägerin und Zentrum des Films. Ur-Berliner Frederick Lau, den man aus Die Welle (2008) und Traumfrauen (2015) kennt, performt den Kleinkriminellen Sonne, der mit seiner Berliner Schnauze und frechen Art schnell bei Victoria punktet, mit großer Leichtigkeit.

Auch die Nebenrollen sind mit Franz Rogowski, Burak Yiğit, Max Mauff bestens besetzt und überzeugend gespielt. Franz Rogowski konnte bereits in Love Steaks (2013) sein Talent für Improvisationen zum Besten geben. Dank der darstellerischen Leistungen aller Beteiligten fällt es auch gar nicht so sehr auf, dass die Figuren im Grunde ziemlich platt sind.

Dass so ein Ereignis kein gutes Ende nehmen kann, wird dem Zuschauer schnell bewusst. Da sich die Figuren vor allem im letzten Drittel des Films ausgesprochen dumm verhalten, ist Mitleid mit diesen schwierig, doch spannend ist der Verlauf allemal. Interessant ist zudem die Entwicklung der Charaktere in kürzester Zeit. Begegnen wir zu Beginn noch smarten Jungs, die in einem wilden Mischmasch aus Englisch und Deutsch auf Victoria einreden und sie zum Bierklau anstiften, sitzen plötzlich alle in einem geklauten Auto und sind unterwegs zu einem Bankraub.

© Senator Film

Und so kommen blitzschnell ganz andere Charakterzüge zum Vorschein als angenommen. Die zum Ende hin abstruse und unlogische Handlung sowie das gnadenlos dämliche Agieren der Protagonisten machen den Film trotzdem nicht weniger sehenswert. Vor allem in den wenigen Momenten, wo die Kamera nicht unmittelbar auf das Geschehen hält, wird extreme Spannung aufgebaut.

Mit der Dreh- und Spielzeit zwischen 4.30 Uhr und 7 Uhr fängt Victoria einen Teil des Tages ein, der zeigt, dass Berlin niemals schläft. Der Film präsentiert die ungeschnittene Realität Berlins und zeigt in eindrucksvoller Weise, wie sich ein Film ohne jeden Cut oder Effekt in nur zweieinhalb Stunden von heiter amüsant zu todernst wandeln kann.

Zahlreiche Preise für Regisseur und Darsteller

Nicht umsonst sahnte der Film beim Deutschen Filmpreis 2015 ordentlich ab. Regisseur Sebastian Schipper, dessen erster Regiefilm Absolute Giganten 2000 den Deutschen Filmpreis in Silber gewann, wurde als bester Regisseur ausgezeichnet und erhielt dem Filmpreis in Gold für den besten abendfüllenden Spielfilm. Neben beiden Hauptdarstellern für die beste darstellerische Leistung und der besten Filmmusik gewann auch Kameramann Sturla Brandth Grøvlen einen Silbernen Bären.

Der Film schafft es trotz seiner Länge zu fesseln und bietet trotz platter Figuren und vorhersehbarer Story ein rauschendes Filmerlebnis. Aus technischer und schauspielerischer Sicht ist Schippe mit Victoria ein Meisterwerk des deutschen Kinos gelungen, das durch seine Machart gekonnt über dramaturgische Schwächen hinweg täuscht und den Zuschauer in jeder der 140 Minuten mitreißt.

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Bildrechte: Senator Film

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