Ich seh, Ich seh (2014) | Filmkritik

Ich seh, Ich seh

„Die ist nicht unsere Mama“, raunt Lukas seinem Bruder Elias (Lukas & Elias Schwarz) unter der Bettdecke ins Ohr. Elias glaubt ihm. Die beiden sind ja ohnehin unzertrennlich und kaum voneinander zu unterscheiden. Kein Wunder, denn sie sind Zwillinge. Sie spielen nicht nur zusammen in den Feldern und Wäldern der ländlichen Idylle Österreichs, sondern kleiden sich auch gerne gleich. Eines unterscheidet sie dennoch.

Als ihre Mutter (Susanne Wuest) von einer Operation nach Hause kommt, ignoriert sie Lukas. Sie will nichts von seinem Willkommensgeschenk wissen, lässt ihn bei den Gesellschaftsspielen außen vor und schenkt ihm noch nicht einmal Limonade ein.

Auch Elias scheint seiner Mutter schon bald auf die Nerven zu gehen. Die neureiche Moderatorin nutzt ihr bandagiertes Gesicht als Vorwand, um sich aus dem Familienleben zurückzuziehen. Sie verlangt absolute Ruhe von ihren Söhnen und fährt sofort aus der Haut, wenn die Jungs ihre Regeln missachten. Ihr rutscht sogar das eine ums andere Mal die Hand aus.

Das alles wirkt auf Elias und Lukas höchst merkwürdig. Als sie dann noch in einem verstaubten Fotoalbum ein Bild ihrer Mutter entdecken, auf dem sie neben einer Frau im Gras sitzt, die genauso aussieht wie sie selbst, ist die Verschwörungstheorie perfekt. Was hat diese unnahbare und launische Frau, die Lukas ignoriert, nur mit der echten Mama gemacht?

Unterdessen suchen Alpträume der übelsten Sorte die beiden Jungs heim. Darin warten immer neue Kakerlaken auf sie. Ihre falsche Mutter scheint sie genüsslich zu verspeisen wie eine ekelhafte Hexe. Irgendetwas geht da nicht mit rechten Dingen zu. Elias und Lukas fassen also einen Entschluss. Sie müssen fort von zu Hause und endlich Hilfe holen. Als ihr Fluchtversuch jedoch missglückt, müssen sie sich selbst behelfen.

Wie zwei verwegene Monsterjäger bewaffnen sie sich mit allem, was ihr steriles Anwesen auf dem Land zu bieten hat. Angespitzte Bleistifte, eine Spielzeugarmbrust, Sekundenkleber und ein Feuerzeug. Im Schlaf wird die falsche Mama kurzerhand von den beiden Jungs gefesselt. Nun kann das Verhör beginnen, ganz nach dem Motto „Guter Cop – Böser Cop“.

Für einen Moment zweifelt Elias noch. Ist die Frau vor ihm tatsächlich nur eine falsche Mama oder doch die echte? Als sie sich aber noch nicht einmal an das Lieblingslied seines Bruders Lukas erinnern kann, ist ihm klar – Sie muss eine Betrügerin sein! Die beiden Brüder werden ihr nur noch eine Chance geben, die Wahrheit zu sagen und ihnen einen Hinweis zu geben, wo ihre echte Mama bloß steckt. Wenn sie die nicht ergreift, dann muss sie brennen. So wie eine Hexe eben brennen muss!

Das Regie-Duo aus Veronika Franz und Severin Fiala liefert mit Ich seh, Ich seh (englischer Titel: Goodnight Mommy) den österreichischen Beitrag zur Oscar-Verleihung 2015 ab. Ob der Streifen sich in der Kategorie „Bester Fremdsprachiger Film“ gegen die Konkurrenz durchsetzten kann und dann im nächsten Frühjahr um den beliebten Goldjungen buhlt, bleibt abzuwarten. Verdient hätte er es auf jeden Fall! Denn was Produzent Ulrich Seidl (Paradies: Liebe, Hundstage), der Regie und dem winzigen Cast hier gelungen ist, sucht im Genre Horror seinesgleichen. Schon Jennifer Kents tiefgehendes Horror-Debüt Der Babadook (2014) hatte ja die Beziehung zwischen Mutter und Sohn zum Thema und wagte sich damit eher in den Bereich des Dramas. Da jedoch ein Geist dabei eine große Rolle spielt, ist die Verbindung zum Horror-Genre immer noch offenkundig.

Bei Ich seh, Ich seh fragt sich der Zuschauer hingegen während der ersten Stunde: Ist das überhaupt ein Horror-Film, den ich da schaue? Meine Antwort lautet: Zum Teufel, ja!

Von den Klischees seines Genres hat er sich zwar weitestgehend entfernt, das kommt dem Film allerdings nur zu Gute. Vergeblich sucht der Paranormal-Activity-Fan nach einer Jump-Scare-Parade, bei der er sich zum Schluss nur noch erschrickt, weil ein nervtötend lauter Ton ihm das Trommelfell zerreißt. Vergeblich sucht auch der Splatter-Freund nach ekelerregenden Szenen, bei dem er die Hände vor dem Gesicht verschlagen muss. Vergeblich sucht der Fantasy-Horror-Freak nach Monstern, Magiern oder Blutsaugern.

Dennoch bleibt Ich seh, Ich seh Horror pur! Er ist vielleicht sogar noch viel verstörender als andere Vertreter seines Genres, denn alles in diesem Film könnte tatsächlich passieren. Der Zuschauer kann sich regelrecht vorstellen, wie der 9-jährige Elias die Wirkung von Sekundenkleber unterschätzt und nicht begreift was geschehen wird, wenn er den Wohnzimmervorhang anzündet. Der Horror ist real!

Noch mehr Horror wartet auf einen, wenn man sich von der gekonnt inszenierten Atmosphäre mitreißen lässt. Das einsame Haus auf dem Land, das für jeden in der Familie zu einem Verlies wird. Der eine darin eingesperrt mit seinem schlechten Gewissen, die andere darin eingesperrt mit ihrem verzweifelten Sohn. Kubricks Shining lässt grüßen!

Von hier aus entwickelt sich ein Kammerspiel des Bösen, bei dem Opfer und Täter plötzlich die Rollen tauschen. Dann ist es von einer auf die andere Sekunde nicht mehr die Mutter, die ihren Sohn schlägt, sondern Elias, der ausholt. Dann verschwinden die Bandagen der Schönheits-Operation vom Gesicht der Mutter, aber Elias und Lukas tragen dafür Masken. Giftgrüne Exemplare mit roten Augenschlitzen und diabolischen Hörnern. Nach Funny Games (1997) kommt auf diese Weise mit Ich seh, Ich seh der nächste klaustrophobische Schlag in die Magenkuhle aus österreichischem Hause. Spätestens als die Zwillinge Lukas und Elias beide ihr weißes Unterhemd anziehen, kann der Zuschauer kaum noch unterscheiden: Wer ist nun Engel und wer ist Teufel? Wer ist guter und wer ist böser Cop?

Oder gibt es gar doch einen Anhaltspunkt? Beim genaueren Hinsehen, natürlich! Denn der eine von den beiden flüstert. Er flüstert immerfort. Lukas flüstert. Er redet sonst nie mit jemandem außer seinem Bruder. Nicht nur seine Mutter scheint ihn zu ignorieren, jeder tut das irgendwie. Als wäre er gar nicht da! Nur Elias weigert sich, das zu glauben. Er hört weiterhin auf jenes teuflische Flüstern.

Und als wäre das nicht bereits geheimnisvoll genug, kommen einem als Zuschauer plötzlich diese bohrenden Fragen: Was ist geschehen, bevor alles zu viel wurde? Was hat es mit diesem Unfall auf sich, von dem die Mutter hier und da spricht? Was ist einst unten am See geschehen? Was soll nicht die Schuld von Elias sein? Manchmal ist Elias allein. Doch immer wenn er allein ist, fällt ihm nur eines ein. Er ruft in die Stille: „Lukas?“ Als würde er ein Lebenszeichen erwarten. Ein Lebenszeichen aus einer verblassten Erinnerung.

Ich seh, Ich seh ist nicht mehr und nicht weniger geworden als einer der besten Horror-Filme unserer Generation. Das Ensemble der drei Hauptdarsteller, einfach Wooow! Es hält einen auf dem Rand seines Sessels.

Ein kleiner Wermutstropfen bleibt jedoch die erste Stunde. Sie ist zwar unglaublich stimmungsvoll, hält aber kaum Horror-Momente für einen bereit. Vielleicht wird der eine oder andere Genre-Experte also anderes erwartet haben, wenn er Horror auf der Blu-Ray liest. Auch er kann jedoch nicht wegdiskutieren, dass das österreichische Machwerk nicht nur als Horror-Film zu überzeugen weiß, sondern auch als Film an sich. Was das Regie-Duo Franz-Fiala hier in stoischen Bildern einfängt, ist einfach virtuoses Kino. Jede Sequenz hat Hand und Fuß und an der einen oder anderen Stelle lauert ein Suspense-Faktor, der in den letzten Jahren zunehmend aus dem Schocker-Bereich verschwunden ist.

Als die Mutter z.B. mit Elias zu Beginn des Films „Wer-Bin-Ich?“ spielt, ist schon alles im Dialog und in der Position der Figuren angelegt, was der Zuschauer wissen muss. Allein in dieser einer Szene steckt mehr Symbolik als in der kompletten Laufzeit so manches Oscar-Anwärters. Ich seh, Ich seh ist vor allem ein psychologisches Meisterstück geworden, das ein paar saftige Faustschläge bereithält, die den Zuschauer plötzlich alles Gewesene in einem anderen Licht sehen lassen. Natürlich ist das tatsächlich alles andere als massenkompatibel. Aber diese Feststellung bleibt neben all dem Einheitsbrei Hollywoods nichts weiter als ein überschwängliches Kompliment. Ich bin geschockt, ich bin bewegt, ich bin berührt!

Und darüber hinaus hallt ein altes Lied in meinem Gedächtnis wieder. Ein Lied, das ich als Kind geliebt habe und nun wohl nie wieder hören kann: „Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ – Goodnight Mommy!

Cast & Crew

Regie: Veronika Franz, Severin Fiala
Drehbuch: Veronika Franz, Severin Fiala
Musik: Olga Neuwirth
Darsteller: Susanne Wuest, Lukas Schwarz, Elias Schwarz, Hans Escher, Elfriede Schatz, Karl Purker

Bewertung

Trailer

Informationen
Ich seh ich seh | 2. Juli 2015 (Deutschland) 6.7

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