´71. Auf den ersten Blick nichts weiter als eine Jahreszahl. Borussia Mönchengladbach wurde damals deutscher Fußballmeister. John Lennon veröffentlichte seinen Welthit „Imagine“. Im Kino liefen unvergessene Klassiker wie Uhrwerk Orange und Dirty Harry. Und natürlich wurde der Wanderfalke absolut verdient zum Vogel des Jahres gewählt.
In Irland zauberte das alles jedoch niemandem ein Lächeln auf die Lippen. Denn die Straßen atmen abermals einen Hauch von Bürgerkrieg. ´71 bedeutete für die Menschen von Belfast nichts anderes als ein weiteres Schreckensjahr. Sie befanden sich mitten in den sogenannten „Troubles“ (1969-1998) und schon bald würde das geschehen, was niemand jemals wieder vergessen sollte. Noch weiß es keiner. Vielleicht ahnt es der eine oder andere. Am 30. Januar 1972, keinen Monat nachdem ´71 sein letztes Kalenderblatt verlor, sollte der schicksalhafte „Bloody Sunday“ anbrechen. Er würde von sechsundzwanzig Menschen das Leben fordern und den Nordirlandkonflikt zum Überschäumen bringen.
In diese Atmosphäre fällt nun Yan Demanges Thriller ´71. Das große Luftholen vor dem Sturm. Wir begleiten dabei den britischen Soldaten Gary Hook (Jack O´Connell), der als Rekrut nach Belfast geschickt wird, um dort die hiesige Polizei zu unterstützen. Er ist ein Grünschnabel, genau wie alle seine Kameraden. Sie kennen nichts anderes als den militärisch-vulgären Ton, tragen nichts als politisches Halbwissen mit sich herum. Dennoch bleibt kaum Zeit zum Eingewöhnen.
Bereits wenige Tage nach ihrer Ankunft muss sich das Regiment in die Höhle des Löwen wagen. Es sollte ein Routine-Einsatz werden. Es sollte friedlich verlaufen. Lt. Armitage (Sam Reid) entscheidet sich sogar gegen die Randale-Ausrüstung und lässt seine Männer nur mit Barett und Marschkleidung auflaufen. Was für ein großer Fehler! Schon als Gary Hook und die übrigen Soldaten vom Transporter absteigen, formiert sich am Ende der Straße der Mob. Es dauert nur wenige Augenblicke bis die „Brits“ von pöbelnden Iren umgeben sind. Als die dann auch noch Zeugen von Polizeigewalt werden, gerät die Situation außer Kontrolle.
Die Demonstranten greifen zu Steinen und das Chaos kennt keinen Halt mehr. Durch eine unglückliche Verwicklung werden Hook und sein Kamerad Thommo (Jack Lowden) von ihrem Regiment getrennt. Sie finden sich jäh in einem Handgemenge wieder und wissen nicht, wie ihnen geschieht. Plötzlich stehen zwei Jungmänner der IRA vor ihnen. Der eine zögert nicht und schießt Thommo in den Kopf, während Hook es gerade noch schafft zu entkommen. In den nächsten 24 Stunden irrt er kopflos durch Belfasts Straßen und muss dabei lernen, was die „Troubles“ wirklich bedeuten. Ein Netz aus gewaltbereiten Menschen! Ein Schattenspiel der Doppelagenten! Ein Land am Rande der Katastrophe!
Was geschieht, wenn ein Mann, der sonst Musikvideos und Mini-Serien dreht, plötzlich sein Spielfilm-Debüt wagt? Normalerweise müsste man erwarten, dass der erste Versuch entweder in die Hose geht oder ganz nett wird. Bei Yann Demange verhielt es sich dagegen etwas anders. Er holte sich für ´71 den Schriftsteller Gregory Burke an Bord, der mit dem Theaterstück Black Watch (2006) über den Irakkrieg bereits bewiesen hatte, dass er Polit-Thriller kann.
Dazu stieß dann noch Komponist David Holmes, selbst in Belfast geboren und für seine Zusammenarbeit mit Steven Soderbergh (Ocean’s-Trilogie, Out of Sight) weltbekannt. Und zusammen gelang den Dreien über Nacht ein von Kritikern beachtetes Machwerk. Sie heimsten eine Festival-Nominierung nach der anderen ein. Auf der Berlinale 2014 würdigte die Ökumenische Jury den Film des britischen Regisseurs sogar mit einem Sonderpreis.
Und dieses ganze Lob hat ´71 wirklich verdient. Auf dem Cover der Blu-Ray heißt es nicht umsonst „100 Minuten pures Adrenalin“! Die Atmosphäre ist zweifelsohne das Meisterstück an dem Film. Über weite Strecke raubt sie einem den Atem und zwar nicht nur während der rasanten Verfolgungsjagden oder wenn plötzlich ein Pub in die Luft fliegt, sondern auch dann, wenn der Film ganz still wird. Zum Beispiel wenn Hook in einer öffentlichen Toilette nur dasitzt und in Tränen ausbricht.
Nur welche Zutaten verleihen der Atmosphäre dieses Streifens einen so unvergesslichen Geschmack? Meines Erachtens sind es vor allem zwei Dinge. Zum einen die Schauspielleistungen. Sie sind durch die Bank eine Offenbarung. Vor allem Hauptdarsteller Jack O´Connell, dem ja erst vor kurzem mit Angelina Jolies Unbroken der Durchbruch gelang, weiß zu überzeugen. Dabei erwarte niemand von ihm emotionale Reden oder ein Actionspektakel. Er redet kaum mehr als 10 Sätze während des Films und humpelt die meiste Zeit über die Leinwand. Was seine Performance vor allem auszeichnet ist der Realismus-Faktor. O´Connell zeigt uns auf erbarmungslose Art und Weise, wie es sich anfühlen könnte in einen Schmelztiegel des Hasses hinein geworfen zu werden. Er ist ein Getriebener, ein Verwundeter, ein naiver Soldat, der zum Spielball einer grausamen Nacht wird.
Auf der anderen Seite dürfen wir Sean Harris (Mission Impossible: Rogue Nation, Prometheus) als ekelhaften MFC Captain Sandy Browning und Paul Anderson als Doppelagent Sergeant Leslie Lewis (Sherlock Holmes: Spiel im Schatten, demnächst Legend) bewundern. Nicht zuletzt sei Barry Keoghan als IRA-Jungmann Sean lobend erwähnt. In seinem Gesicht sehen wir in jeder Minute, wie vergiftet die Köpfe der Halbstarken damals waren und diese Erkenntnis geht ans Herz.
Die zweite wichtige Zutat ist das Zusammenspiel von Set und Soundtrack. Yann Demange hat mit seinem Team die ausgestorbenen Straßen Belfasts perfekt eingefangen. Die beeindruckenden Bilder befeuern die Spannung der Handlung stetig. Wütende Graffitis, brennende Busse, Straßenblockaden, verwahrloste Wohnungen. Sie alle sind mit der exzellenten Musik im Hintergrund ein Fenster zur Seele des Konfliktes, der sich in den Köpfen der Menschen abspielt. Eine der besten Beispiele dafür ist die Szene, in der das britische Regiment zu seinem ersten Einsatz kommt. Erst ist es ganz still. Dann klappern die irischen Frauen plötzlich mit den Mülleimerdeckeln und wecken den Mob auf. Gänsehaut!
Eine Warnung sei zum Schluss noch ausgesprochen. ´71 ist ein Arthouse-Film durch und durch. Da gibt es kaum Erklärungen für diejenigen, die in englischer Geschichte nicht aufgepasst haben. Der Plot konzentriert sich nur auf eine Nacht. Es wäre fatal, ein neutrales Bild des Nordirlandkonflikts zu erwarten oder gar einen abgerundeten Plot.
´71 ist ein schwer verdaulicher Film geworden und entspricht so auf authentische Weise jener Zeit, die er porträtiert. Hinter feindlichen Linien verschwimmen vor Gary Hooks Augen plötzlich die Grenzen zwischen den scheinbar freundlichen Protestanten und feindlichen Katholiken. Seine Flucht durch die Tiefen einer Nacht ist dabei ein packendes Erlebnis voller Adrenalin.


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