No Place on Earth (2012) | Filmkritik

No Place on Earth

Jede Höhle hat ein Geheimnis. Höhlenforscher Christopher Nicola unternimmt 1993 eine Expedition in das weitverzweigte Höhlensystem der Ukraine. Ursprünglich war er auf der Suche nach Recherchematerial zu seiner eigenen Familie. Doch was er auf einem seiner Höhlenausflüge entdeckte, ist die wahre Geschichte einer anderen Familie.

Tief in der Gipskarsthöhle namens „Priestergrotte“ findet er Spuren und Objekte von Menschen: Knöpfe, Schuhe, Fläschchen und einen Mahlstein. Von da an versuchte er, der geheimnisvollen Geschichte, die knapp 50 Jahre zurücklag, auf den Grund zu gehen.

Erst nach jahrelanger erfolgloser Suche findet Nicola schließlich die jüdische Familie von Esther Stermer, die während des Zweiten Weltkrieges im kleinen Ort Korolowka lebte. Für Juden war die Lage im Dritten Reich ausweglos. Etwa 1,5 Millionen ukrainische Juden kamen in Konzentrationslagern ums Leben, nur 5 Prozent überlebten.

Esther Stermer und ihre Familie versteckte sich vorerst bei Bekannten im Dorf, doch als sie die nahende Gefahr erkannte, traf Esther eine schwerwiegende Entscheidung. Um ihr Überleben zu retten, zog die gesamte Familie im Oktober 1942 in eine nahegelegene Höhle. In Finsternis und ohne Frischwasserzugang oder medizinische Versorgung mussten sie sich alle versteckt halten. Die Söhne Esthers verließen nachts die Höhle, um Verpflegung für die Familie zu besorgen. Doch als die Nazis schon bald das Versteck aufspüren, sind sie gezwungen einen neuen Unterschlupf zu suchen …

Durch den Mut der jüngsten Familienmitglieder, einer Menge Glück und einem unbändigen Überlebenswillen gelingt ihnen der längste Aufenthalt unter der Erde in der Geschichte der Menschheit.

Regisseurin Janet Tobias (Life 360) war sich bewusst, dass die Messlatte für Holocaust-Dramen und Dokumentarfilme sehr hoch liegt. Da es zu diesem Thema schon zahlreiche Produktionen gegeben hat, entwickelte Tobias einen neuen Erzähl-Ansatz und schaffte mit No Place on Earth eine Abenteuer- Überlebensgeschichte.

Was ihrem Dokumentarfilm Spannung verleiht, ist die Zusammensetzung aus drei verschieden Erzählsträngen. Zum einem geben vier Überlebende der Familie ihre Erinnerungen preis. Untermalt werden ihre Erzählungen durch Spielfilmsequenzen, die den Alltag und die Schwierigkeiten im Höhlenversteck illustrieren. Der dritte Erzählstrang begleitet den Forscher Christopher Nicola gegenwärtig in der Ukraine und zeigt, wie dieser mit den Betroffenen Saul und Sam Stermer, Sonia und Sima Dodyk sowie Sol Wexler in die ukrainischen Höhlen hinabsteigt.

In diesen bewegenden Aufnahmen werden die Familienmitglieder mit den Orten konfrontiert, die sie seit mehr als 66 Jahren nicht mehr betreten haben. Mit speziellen Sicherheits-Geschirren werden die Senioren in die Höhlen abgeseilt. Das gesamte Team erlebt einen Eindruck davon, wie die Stermers damals über ein Jahr leben mussten: Meist in völliger Dunkelheit, mit extrem hoher Luftfeuchte und bei Temperaturen um die 12°C.

Der Teil der Wiederkehr wurde bewusst vor den Interviews gedreht. Tobias hoffte, dass diese Reise Erinnerungen in den Beteiligten wecke. Und so kamen in den darauffolgenden Textinterviews vergessene Details zum Vorschein und die Überlebenden lieferten großartige Beschreibungen.

Das Drehbuch für No Place on Earth basiert neben den Interviews auf Esther Stermers Memoiren We Fight to Survive, die sie 1960 schrieb. Auch ihr Neffe Sol Wexler veröffentlichte seine Erinnerungen. Insgesamt haben die Stermers 511 Tage unter der Erde gelebt. Sie hatten nichts außer einander und einem enormen Erfindungsreichtum. Als die Familie sich nicht mehr versteckt halten musste, hatten Frauen und Kinder seit fast einem Jahr kein Tageslicht mehr gesehen.

Drehort für die nachgestellten Szenen war die Baradla-Höhle in Ungarn, die größte europäische Tropfsteinhöhle. So war auch der Cast komplett ungarisch. Das Kamerateam, unter ihnen der Oscar©-nominierte Cesar Charlone (Der ewige Gärtner), stellte sich der großen Herausforderung, in einer Höhle zu filmen. Die Familie Stermer konnte Kerzen und Kerosinlampen damals nur sehr spärlich einsetzen, so lebten sie in ständiger Finsternis. Um dem Zuschauer etwas zu bieten, kann es jedoch nicht allzu lange dunkel auf der Leinwand bleiben. Das Ergebnis ist ein gekonntes Spiel mit Licht und Schatten, welches Angst und Beklommenheit hervorruft und auch ohne ständige Düsternis einen realen Eindruck des finsteren Höhlenalltags vermittelt.

Natürlich muss man das Thema sehr sensibel betrachten. Allerdings kommt die beklemmende und elende Situation der Familien, die wie Ratten in den Höhlen leben mussten, nicht ganz zum Ausdruck. An vielen Stellen wird die Geschichte recht märchenhaft inszeniert. Den Jungen gelingt es scheinbar mühelos an Essen für die Familie heranzukommen, wofür sie oft kilometerlange Wege zurücklegen müssen. Konflikte in der Höhle, psychische Folgen, Kälte, Gestank, der gesundheitliche Zustand der Menschen, Platzängste und die Gewissheit des jederzeit möglichen Todes durch die Nazis werden nur angedeutet. Auch, dass noch andere Familien in den Höhlen lebten, wird nur kurz erwähnt. Zudem lernt man zwar Esther Stermer als eine mutige Frau kennen, die sich bedingungslos für ihre Familie einsetzt, Eigenschaften anderer Mitglieder kommen jedoch ein wenig kurz.

Natürlich ist es schwierig, thematisch ähnliche Kino- oder Fernsehbeiträge mit einem weiteren Dokumentarfilm zu übertreffen. Doch Tobias erweckt in dieser unglaublichen Story die Ausweglosigkeit der jüdischen Verfolgten erneut zum Leben. Trotz einiger Schwächen der Schauspielsequenzen gelingt ihr die ergreifende Geschichte einer wahnsinnigen Flucht. Erschütternd ist, dass die Stermers nur an einem Ort, der von vielen gefürchtet wird, freie Menschen sein konnten. Dass die wahren Monster und Gefahren, nicht etwa in den Tiefen der Höhle zu finden waren – sondern draußen.

Regie: Janet Tobias
Drehbuch: Paul Laikin
Kamera: Cesar Charlone, Eduard Grau, Sean Kirby, Peter Simonite
Darsteller: Katakin Laban, Balazs Peter Kiss, Daniel Hegedüs, Balazs Barna Hidvegi, Fruzsina Pelikan, Orosz Andras, Mira Bonelli

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