The Woman in the Window (2021) | Filmkritik

Sagt man nicht, dass jeder Psychiater selbst immer auch ein bisschen verrückt ist? Tatsächlich leidet die Kinderpsychologin Anna Fox (Amy Adams) an Agoraphobie.

The Woman in the Window: Paranoia am Fenster

Diese Angststörung macht es ihr unmöglich, das eigene Haus zu verlassen. Und so bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Außenwelt zu sich nach Innen zu holen, indem sie von ihren langen Fenstern aus die Nachbarschaft beobachtet.

© Netflix / 20th Century Studio

Die Russels, die gerade erst auf der gegenüberliegenden Straßenseite eingezogen sind, haben es Anna besonders angetan. Wohl auch deswegen, weil dort mehr los ist als bei dem baptistischen Gebetskreis im Haus daneben.

Was geschieht in Apartment 101?

Der Vater der Familie scheint Probleme mit seinem Temperament zu haben und nachdem Anna sowohl den Sohn Ethan (Fred Hechinger) und seine Mutter Jane (Julianne Moore) kennenlernt, bereiten ihr die lauten Wortgefechte von Gegenüber zunehmend Sorgen.

Eines Nachts dann schaut sie schließlich zu genau hin und beobachtet etwas, das sie nie hätte sehen sollen. Oder hat sie etwa in ihrer Panik doch mehr in einen Schubser und einen Aufschrei hineininterpretiert, als tatsächlich passiert ist?

© Netflix / 20th Century Studio

Die Erfahrung lehrt, dass ein Produktionschaos in der Regel kein gutes Zeichen ist, wenn es um die Qualität eines Filmes geht. Dabei gilt dann wie bei so vielen anderen Prozessen schlicht der Merksatz: Viele Köche verderben den Brei.

Beispiele solcher gescheiterter Werke, die erst keiner so abnehmen wollte, wie sie geplant waren und die dann letztlich doch irgendwie ihren Weg ans Tageslicht der Filmöffentlichkeit fanden, gibt es viele. Die Produktion von The Woman in the Window stand ebenfalls unter einem solch schlechten Stern.

Eine Besetzung voller Talent

Dabei brachte das Projekt zunächst die idealen Voraussetzungen für einen Abräumer mit. Mit Joe Wright (Stolz und Vorurteil, Abbitte, Pan) wurde ein britischer Regisseur gewonnen, der mit dem Winston-Churchill-Biopic Die dunkelste Stunde (2017) einen oscarprämierten Film kreiert hatte.

Die Riege der Darsteller und Darstellerinnen las sich beachtlich. Amy Adams (Arrival, Batman v Superman, Nocturnal Animals), Julianne Moore (Kingsman – The Golden Circle, Die Geiselnahme, Die Tribute von Panem) und Gary Oldman (Mank, Die dunkelste Stunde, Batman-Trilogie) sind sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik absolute Superstars.

© Netflix / 20th Century Studio

Noch dazu adaptierte man mit The Woman in the Window einen Erfolgsroman, der auf eine noch sehr frische Fangemeinde bauen konnte. Die Debüterzählung von Dan Mallory alias A. J. Finn stand erst 2018 auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste. Doch dann geschah es. Der Film floppte vor einem Testpublikum und erschien darum nicht mehr wie geplant im Herbst 2019.

In Eile wurde nachgedreht und das Musikdepartment neu besetzt – statt Atticus Ross und Trent Reznor (Soul, Watchmen, The Social Network) orchestrierte nun Danny Elfman (Spider-Man, Girl on the Train, Dumbo). Doch auch das zweite Veröffentlichungsdatum war schon bald dahin, nachdem ein Virus ausbrach, das auch die Kinowelt schockierte.

Der Verriss der Presse

Schließlich kaufte Netflix das Werk ein. Eine solche Übernahme externer Projekte verhalf in der Vergangenheit auch schon so guten Filmen wie Annihilation (2018) zu weltweiter Aufmerksamkeit. Doch das kann mit The Woman in the Window wohl kaum mehr passieren. Der Film wird zur Zeit von vielen Kritikern und Kritikerinnen in der Luft zerpflückt.

Der Kritikerscore auf der Filmrating-Plattform Rotten Tomatoes liegt bei 25 Prozent. Die Zuschauerinnen und Zuschauer vergeben auch nur 39 Prozent. In der ZEIT liest man, Joe Wrights neuer Thriller​ sei ein „lächerlicher Film“ (David Hugendick, 18.05.21). Laut Wolfgang Höbel sei am Ende das einzig Überzeugende daran die Inneneinrichtung der Kulisse (SPIEGEL Kultur, 15.05.21).

Ich möchte dieser negativen Presse ausdrücklich widersprechen. Vielleicht kann dieser Film, der gerade bei Netflix schon an der deutschen Chartspitze rangiert, über die Mund-zu-Mund-Propaganda noch ein paar mehr Menschen – auch unter Cineasten – erreichen.

© Netflix / 20th Century Studio

Gleich zu Beginn möchte ich sagen: Natürlich ist The Woman in the Window kein perfekter Film. Danny Elfmans Musik tüdelt pausenlos umher, untermalt zwar so manches Mal auch äußerst stimmungsvoll die Szenerie, aber ist ansonsten vor allem wegen ihrer Omnipräsenz anstrengend. Auch wenn man sich so manchen Twist, den die Handlung bereithält, am nächsten Morgen nüchtern besieht, wird man feststellen, dass er nicht ohne einige Lücken in der Erzählung auskommt.

Überraschende Wendungen

Einige Wendungen kommen – und das ist selten gut – vollkommen aus dem Nichts. Die Schauspielleistungen der großen Drei – Adams, Oldman und Moore – sind unfreiwillig komisch, da sie durchweg an der Grenze zum Overacting agieren oder – vor allem im Fall von Gary Oldman – nie weniger als mit einem Puls von 180 spielen. Aber, wer deswegen behauptet, der Film sei ein missratenes Machwerk, den kann ich nur bedauern. Und das meine ich ganz ernst.

Es tut mir leid, wenn man einen Film nicht für das schätzen kann, was er ist, sondern an ihn Kategorien anlegt, in die er eindeutig nicht fällt. Dann kann der Funke nur schwer überspringen. Diese Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität führt oftmals zu herber Enttäuschung. Wer von The Woman in the Window den nächsten Oscarkandidaten oder ein minutiöses psychologisches Lehrstück erwartet, der wird enttäuscht werden. Auch sollte man wohl kaum, ehe man den Film sieht, hoffen, dass Joe Wright einem einen modernen Hitchcock präsentiert.

Wer ein bahnbrechendes Meisterwerk erwartet, bekommt selten eins. Im Übrigen waren auch die Filme, die heute als solche gehandelt werden – wie z.B. Pulp Fiction oder 2001: Odyssee im Weltraum –, ursprünglich nicht so erwartet worden. Ich empfehle eine andere Herangehensweise.

© Netflix / 20th Century Studio

Am besten erwartet man von The Woman in the Window spannenden Hochglanztrash. Ich bin im Kino der 90er-Jahre großgeworden und durfte deswegen ein Herz für absurde Geschichten entwickeln, die auf ihre überdrehte Art und Weise einen unterhaltsamen Abend füllen konnten. Das waren vor allem vollkommen abgefahrene Actionshits wie Con Air (1997), Speed (1994) oder Science-Fiction-Horror-Streifen wie Cube (1997) und Event Horizon (1997).

Logik-Lücken ohne Konsequenzen

Manchmal auch eine Mischung davon wie im Falle von Total Recall (1990) oder Starship Troopers (1997). The Woman in the Window bedient nun ein anderes Genre: den klassischen Psycho-Thriller. Trotzdem kommt der Film mit demselben leicht trashigen und überdrehtem Vibe daher. Ein Twist jagt den anderen. Die Kamera schlägt Kapriolen. Der noch so unbedeutendste Moment – wie wenn Anna nach ihrem Handy unter dem Bett tastet – soll Nervenkitzel erzeugen. Die Zeitebenen überlappen sich und desorientieren den Zuschauer manchmal absichtlich.

Das alles ist ganz sicher nicht das, was man als nuanciertes Geschichtenerzählen bezeichnen würde. Die Geschichte hat Lücken, teilweise sogar große. Aber wenn die Immersion gelingt und man sich von der Welt des Filmes bewegen lässt – und das ist hier während der spannenden Momente des Filmes durchaus ganz körperlich gemeint –, dann stören die Lücken nicht einmal.

Sie fallen einem vielleicht im Nachhinein auf, aber dann hatte man ja bereits 100 Minuten ungetrübten Spaß mit dem Film. Denn auch wenn der Vergleich mit dem Thriller-Meister Alfred Hitchcock praktisch danach schreit, dass man ihm nicht gerecht wird, gibt es in The Woman in the Window tatsächlich ein Drehbuch mit gelungenen Suspense-Momenten. Wir vor dem Fernseher können bestimmte Dinge ahnen, weil sie vorher schon einmal vorgekommen sind. Weil die Kamera absichtlich eine Sekunde zu lang auf einem scheinbar belanglosen Objekt oder Ort – wie einem Dachfenster oder einem Notizblock – klebt, bleibt gespannt abzuwarten, was mit ebenjener Belanglosigkeit in der Zukunft noch geschieht.

Und manchmal trifft einen der Blitz dann eine Sekunde vor der Auflösung. Man erinnert sich an das Detail, ehe es die Figuren in der Handlung tun und das bereitet eine überraschende Befriedigung.

Das Kammerspiel-Setting selbst ist so vielleicht nicht vollkommen neu erfunden, aber doch mitreißend genug, um mitzurätseln, ob Anna nun dem Wahnsinn verfällt oder tatsächlich die pikante Kronzeugin einer Gewalttat auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist. Und wer könnte sich in den Zeiten des Lockdowns gerade nicht mit einer Frau identifizieren, die ihr Haus nicht verlassen kann und hin und wieder Angst vor den Begegnung mit fremden Menschen hat.

The Woman in the Window überzeugt als eine Mischung aus James Mangolds Identität (2003) und Disturbia (2007) von D. J. Caruso, die bestimmt nicht jedem schmeckt. Doch wer sich bei diesem Film auf das einlässt, was er ist – nämlich ein überzogenes und hyperstilisiertes Genre-Stück –, dem steht ein kurzweiliger Abend mit Spannung und Spaß bevor.

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Bildrechte: Netflix / 20th Century Studio

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