Stranger Things S01 | Serienkritik

Wenn das Licht flackert, wirft die Nacht langfingrige Schatten und die scheren sich nicht darum, auf wen sie fallen. Für jene gesichtslose Dunkelheit macht es keinen Unterschied, dass in der Geschichte der verschlafenen Kleinstadt Hawkins ein Eulenangriff der größte Aufreger war, den es je gab. Sie wird ihre Bewohner trotzdem nicht verschonen.

Nachdem der Teenager Will Byers (Noah Schnapp) eines Morgens nicht mehr aufzufinden ist, zeichnet sich eine Tragödie inmitten der Gemeinde ab. Während Wills Mutter Joyce (Winona Ryder) bereits schnell eine düstere Wahrheit wittert, lässt der Polizei-Chef Jim Hopper (David Harbour) sich nicht beirren. Doch es gelingt ihm nicht einmal einen ganzen Tag lang harmlosen Erklärungen zu glauben. Spätestens als er Wills umgestürztes Rad zurückgelassen im Wald findet, muss er eine Vermisstenanzeige ausfüllen.

Derweilen kann die Clique rund um Mike (Finn Wolfhard), Dustin (Gaten Matarazzo) und Lucas (Caleb McLaughlin) die Füße nicht mehr still halten. Obwohl ihre Eltern es verbieten, lassen die drei es sich nicht nehmen auf eigene Faust nach ihrem besten Freund zu suchen. Des Nachts im verregneten Dickicht der Bäume stoßen sie jedoch auf etwas gänzlich Unerwartetes. Während von Will weiterhin jede Spur fehlt, taucht ein anderes Kind – mit Namen Elf (Millie Bobby Brown) – jäh aus dem Nichts auf. Geschorenes Haar, mager und vollkommen orientierungslos. Sie wird nicht die letzte Merkwürdigkeit in Hawkins gewesen sein und schon längst nicht die gefährlichste.

Bereits nach den ersten zehn Minuten von Stranger Things erinnert das neonrote Logo der Serie an den Stephen-King-Schriftzug seiner ersten Bestseller. Vielerlei solcher Anspielungen sollen noch folgen. Darin zeigt sich ein Motiv, das die Unterhaltungsbranche momentan durchzieht: Das Spiel mit der Nostalgie. Natürlich gab es das schon immer und das wird es auch weiterhin, denn es scheint seinen Grund im Wesen des Menschen an sich zu haben. Deswegen lesen wir Bücher ein zweites oder gar drittes Mal. Deswegen verbinden wir Omas Schwarzrübensirup mit Heimat. Deswegen entwickeln wir eine emotionale Bindung zu so mancherlei Orten, die uns daran erinnern, dass unser Leben schön sein kann.

Wir kehren oftmals lieber zu Orten, Personen, oder in Strukturen zurück, die wir bereits als tragend empfunden haben, statt uns immerfort dem Neuen auszusetzen. Das ist schließlich nicht nur aufregend, sondern eben auch ungewiss. In jüngster Zeit entstanden daher viele Projekte aus der Sehnsucht nach einem Hauch Nostalgie, denn der füllt ja bekanntlich die Kasse.

In der Filmwelt sind das neueste Ghostbusters-Remake (2016), Jason Bourne (2016) und Jurassic World (2015) Symptome eines regelrechten Nostalgie-Wahns. Sie funktionieren vor allem nach der Maxime „Bigger is Better“ und ahmen ihre Vorbilder sogar bis zur Handlung nach. Viel Geld und Zeit wird auf bestimmte Lieblingselemente aus den Vorlagen verwendet, die beim Zuschauer so etwas wie einen positiven Trigger-Effekt herbeiführen. Er soll darüber vergessen, wie wenig originell das neue Produkt tatsächlich ist.

Den Serienmarkt überschwemmen u.a. mit Hannibal, Fargo, From Dusk till Dawn, 12 Monkeys oder Lethal Weapon ebenfalls Serienadaptionen von bereits mehrfach verfilmten Erfolgsmaterial. Zugegebenermaßen entschied ich mich aus nichts anderem als dieser Nostalgie für Stranger Things. Die Kritik bewarb die Mini-Serie als Mix aus den weltbesten Stevies – Steven Spielberg und Stephen King –, also war ich an Bord.

Was ich geboten bekam, zeigte mir schließlich in Perfektion, wie unterhaltende Kunst mit dem Phänomen Nostalgie umgehen muss, um sich nicht irgendwann damit selbst zu begraben.

Die Vorbilder treten zwar unverkennbar zutage, doch dabei ersetzt im Werk aus dem Hause der Duffer Brüder niemals deren Referenz die eigene Kreativität oder selbstständige, sympathische Figuren. Drei Jungs auf ihren Fahrrädern im Geäst von Kleinstadtgassen erinnern zwar an E.T. (1982) und ihr geheimer Treffpunkt – ein alter Schrottplatz – könnte eine Einstellung aus Rob Reiners Stand by Me (1986) sein, doch sie selbst erhalten ihr ganz eigenes Gesicht.

Ihre Zimmerwände zieren stolze Poster von Spielbergs Der weiße Hai (1975), Carpenters The Thing (1982) und Tanz der Teufel (1981). Während dies für die Visionäre hinter der Serie ihre charmante Art ist zu sagen: „Das sind unsere Helden“, ergibt es für Mike, Dustin und Lucas doch Sinn, dass sie sich 1983 für ebenjene Filme begeistern. Wenn Dustin hier und da eine Star-Wars-Metapher benutzt, dann passt sie in die popkulturelle Enzyklopädie eines Kindes seines Alters in den 80ern.

Somit ist der Umgang der Jungs untereinander höchst realistisch gekennzeichnet. Hier schreit ein Dustin einfach mal, wenn er schreien würde. Da reden alle durcheinander, wenn sie streiten und führen keinen perfekt durchgestylten Dialog. Spätestens nach der zweiten Folge schließt man die Kumpels so allesamt ins Herz. Neben ihnen weiß auch der restliche Cast beinahe ausnahmslos zu überzeugen. Einzig und allein Wills Mutter Joyce Byes wird von Winona Ryder so konstant hysterisch gespielt, dass sie manche Szene überstrapaziert.

Die größte Stärke von Stranger Things besteht wohl darin, dass im gesamten Rollenangebot nicht nur die drei Jungs Dustin, Mike und Lucas große Sympathien erwecken, sondern neben ihnen eine ganze Reihe anderer untypischer Helden heranwachsen. Da wäre einmal Chief Hopper, der mutige Raubeiner auf der Suche nach Wahrheit, für die er auch einmal Wege abseits des Gesetzes einschlägt. Dann noch Charlie Heaton als Bruder des vermissten Will – Jonathan Byers –, der glaubt, er müsse für seine Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs stark sein, obwohl sie das doch eigentlich für ihn sein sollte. Mikes ältere Schwester Nancy Wheeler (Natalia Dyer) entwickelt sich vor allem gegen Ende der Serie zu einer liebenswerten Kriegerin im Kampf gegen die Finsternis.

Doch ungeschlagen an der Spitze steht das mysteriöse Mädchen Elf. Millie Bobby Brown zählt mit dieser Darbietung zu den zehn besten Kinderschauspielern, die mir bekannt sind. Ihre wortkarge, eingeschüchterte Art, die immer wieder von plötzlichen Schüben ihrer übermenschlichen Kräfte durchbrochen wird, könnte man nicht nuancierter spielen. Es sind nicht die großen Gefühlsausbrüche, sondern viele kleine Blicke, ein befreites Lächeln zur rechten Zeit, ein Zittern, ein Zucken, die den Eindruck einer realen Persönlichkeit hinterlassen.

Elf komplettiert so ein reiches Ensemble, das Element, was eine Serie erst interessant macht. Da man im Gegensatz zum Film mindestens sieben Stunden pro Staffel mit denselben Charakteren verbringt, sind sie für den Schaugenuss oft wesentlich ausschlaggebender als ein durchweg spannender Plot. Zum Glück verfügt Stranger Things auch über diesen.

Da nicht nur Worte reden, sondern vor allem starke Bilder, verliert sich das Tempo der Handlung nicht in zu vielen selbst erklärenden Dialogszenen. Vielmehr entfaltet die Zuschauerlenkung der verschiedenen Regisseure ihre Wucht nicht im Expliziten, sondern in Suspense-Einstellungen: Der Schatten auf einem Foto; eine Silhouette im Nebel; ein Türriegel, der von außen aufgeschoben wird; flackernde Lichter wie Morsezeichen; eine Hand, die sich unter der Tapete bewegt. Dazu kommt ein atmosphärischer Synthesizer-Soundtrack von Kyle Dixon und Michael Stein, der Verliebtheit genauso gut zu porträtieren weiß wie das Mysteriöse, oder pochende Angst.

Für Serienfans ist Stranger Things ohnehin ein Hochgenuss, doch auch Filmfreaks dürfen sich hiermit auf ein handwerklich hochwertiges Stück Unterhaltungsgeschichte freuen, das längst nicht nur mit Nostalgie punktet, sondern stattdessen ein originelles Paket für den Zuschauer ist, von dem besser vorher nicht zu viel verraten wird. Natürlich hält das Kreativteam sich die Tür für Staffel 2 offen – inzwischen ist sie für 2017 bestätigt – und dennoch ist der Plot vom ersten Abschnitt so ausgelegt, dass man nicht zwangsläufig zurückkehren muss. Eine stringente Handlung wird verfolgt und zu ihrem Ende geführt. Wer mehr wissen will, darf sich freuen. Wem die Geschichte genug war, wurde bestens unterhalten.

All dies sollte dazu einladen, um sich mit Mike, Dustin, Lucas und Elf auf die Suche nach Will zu begeben, die im Wechselspiel zwischen Coming-of-Age und Sci-Fi-Horror ihr ganz eigene Dynamik entwickelt. Stranger Things weiß, wie mit Nostalgie umzugehen ist. Da sie zum menschlichen Leben dazugehört, muss sie aus dem Programm der Kinos und der häuslichen Flimmerkisten nicht weichen. Sie ist das vorher Dagewesene. Die Enzyklopädie in jedermanns Gedanken. Und dennoch ist sie nicht dazu da, immerzu bloß beschaut und bestaunt zu werden. Nein, sie soll stetig wachsen. Nostalgie ist nämlich wie guter Boden, der zwar immer am selben Fleck bleibt, aber Frühling um Frühling neue Pflanzen hervorbringt, jede schön auf ihre eigene unverwechselbare Weise.

Episodenübersicht zu Stranger Things

Idee: Matt Duffer, Ross Duffer
Darsteller: Winona Ryder, David Harbour, Finn Wolfhard, Millie Bobby Brown, Gaten Matarazzo
Länge pro Episode: ca. 41–54 Minuten

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