Das Dunkel der Leinwand ziert nichts als eine namenlose Stimme. Sie singt Somewhere over the Rainbow, auch wenn sie eigentlich mehr nuschelt als singt. Dann grelles Licht.
Jesus Egon Christus auf der Berlinale 2021
Wir sehen einen in Gedanken versunkenen jungen Mann. Wie in einem alten Kriegsfilm sitzt er auf einem Stuhl und sieht dabei zu, wie er die Haare ratzekahl geschoren bekommt. Und wie in einem alten Kriegsfilm hören sich auch die ersten Zeilen des zuständigen Drill-Sergeant danach an. Auch wenn der sie ganz sanft und salbungsvoll vorträgt. Denn der Sergeant ist gar kein echter Sergeant, sondern ein Prediger.
Er spricht zu einem Raum eingeschüchterter Gestalten, denen die Verwahrlosung ins Gesicht geschrieben steht. Sie alle sind von etwas gezeichnet: von Drogensucht, Krankheit, Armut. Zu diesem inkarnierten Leid spricht der Prediger mit ausgebreiteten Armen:
Ihr seid gottlose Würmer, ihr seid irrende Seelen. Und ich war auch einer von Euch: ein lebender Toter, ein toter Lebender. Ein Zombie. Ein Geier. Ein Blutsauger.
Dem Prediger gegenüber sitzt Egon, der verträumte junge Mann mit den kahlgeschorenen Haaren. Er ist Psychotiker und muss seinen Weg in dieser surrealen Kahlheit einer Drogen-Therapieeinrichtung an der Peripherie Berlins finden.
Mit Jesus Egon Christus liefert das Regie-Duo aus David Vajda und Saša Vajda seinen Beitrag zur diesjährigen Berlinale-Rubrik Perspektive deutsches Kino. Ihr Projekt ist ein echtes Kleinod. Mit schlanken 51 Minuten und einer fragmentarischen Erzählweise entzieht sich der Film vielen Konventionen. Vor allem, was die Bewertung politisch brisanter Themen betrifft.
Eine Gemeinschaft von gezeichneten Schicksalsgenossen
Da wäre zunächst einmal die Figur des Predigers, gewohnt stark gespielt von dem einzig wirklich bekannten Gesicht im Cast, Sascha Alexander Geršak (Wir können nicht anders, Gladbeck). In den meisten Inhaltsangaben des Films wird sein Charakter als evangelikaler Geistlicher mit finsteren Methoden beschrieben.
Und gewiss wecken sein Verhalten und seine Worte an mancher Stelle toxische Erinnerungen an den realen Machtmissbrauch religiöser Amtspersonen in der Vergangenheit und Gegenwart.
Doch der Film entscheidet sich in diesem Fall kaum für eine Seite. In einigen Momenten, wo der Prediger aus der Haut fährt, sind seine Reaktionen oftmals nachvollziehbar, wenn auch deswegen nicht automatisch gut. Auch die anderen gesellschaftlich brisanten Themen werden nicht als solche glattgeschliffen präsentiert.
Die Geschichten der Therapiebedürftigen handeln von Drogen, Vergewaltigung, Kriminalität oder schwersten Erkrankungen. Ein Ex-Junkie trägt ein Hakenkreuz auf dem Oberarm. Überall hier setzt der Film den Zuschauern aber keine vorschnellen Lösungsansätze oder Deutungsmuster vor.
Ein intimes, beobachtendes Drama über eine Gruppe Heroinabhängiger
Es gibt auch kein Happy End, aber auch kein Unhappy End. Die Schicksale der Menschen, die einem auf der Leinwand begegnen, sind einfach nur Schicksale, die Aufmerksamkeit verdienen, ohne dass man daraus sofort reflexartig lernen müsste.
Die Hauptfigur Egon mit seiner Psychose (gespielt von dem Musiker Paul Arámbula) bekommt eine faszinierende Bühne geboten. Er verarbeitet das Evangelium des Predigers in nächtlichen Gesprächen – oder sind es Gebete – mit Jesus und sich selbst. Dabei ringt er um Antworten und verbietet sich keine Frage von vornherein.
Jesus Egon Christus scheut sich in diesem Zusammenhang nicht Egon ehrlich zu zeigen. Die Kamera bleibt auch dann bei ihm, wenn seine Ticks minutenlang anhalten, er immer wieder die gleichen Sätze wiederholt oder zwischen Flüstern und Schreien wechselt. Beim Zuschauen können die Nerven dabei schon einmal dünn werden und dennoch setzt der Film einen dieser Realität aus.
Die Regisseure Vadja und Vadja erzählen mit Jesus Egon Christus weniger als die meisten Filme. Und dann doch so viel mehr. In quasidokumentarischem Stil konfrontieren sie einen mit der Realität, die es selten auf die große Leinwand schafft. Und dabei scheint die conditio humana auch an solchen Menschen auf, die immer wieder nur für Menschen zweiter Klasse gehalten werden. Ein intimes Fragment deutscher Kinokultur.
Bildrechte: © vajda film UG